Schamanen aus Gold: Die „tunjos“ aus dem Hochland Kolumbiens

    
     Beitragsautorin:

     Dr. Doris Kurella
     Stuttgart
     Für den Blog im Juli 2021


Alle Fotos: Anatol Dreyer, Linden-Museum Stuttgart
(Klick -auch mehrfach – auf die Bilder vergrößert)


Zur Person von Frau Dr. Kurella

Dr. Doris Kurella, geb. 1957, hat Altamerikanistik und Ethnologie studiert.  Im Jahre 1987 begann sie mit Ihrem Promotionsvorhaben zu den präkolumbinischen Völkern Kolumbiens, das sie Anfang 1992 abschloss. Während dieser Zeit verbrachte sie 1 Jahr in Kolumbien, um in den Archiven in den Dokumenten aus dem 16. Jahrhundert zu forschen. Auch im „Archivo de Indias“ in Sevilla verbrachte sie mehrere Monate. 1997 ist Frau Dr. Kurella als Leiterin des Referats „Lateinamerika“ am Linden-Museum in Stuttgart tätig. Seit 2004 ist sie zusätzlich stellvertretende Direktorin. Sie führte mehrere Sonderausstellungen (u. a. „Amazonas-Indianer: LebensRäume – LebensRituale – LebensRechte“)
durch.


Das Hochland Kolumbiens, genauer gesagt die „Altiplano Cundiboyacense“ genannte Hochebene in der östlichen Kordillere war in der vorspanischen Zeit Schauplatz beeindruckender Rituale, großer Märkte, überregionaler Handelsbeziehungen und ausgeprägter handwerklicher Kunst: Die nördlich der heutigen Hauptstadt Kolumbiens, Santa Fé de Bogotá, gelegene Region beherbergte eines der größten und bedeutendsten Völker des präkolumbischen Amerikas, die der Sprachgruppe der Chibcha angehörigen Muisca.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt geht man davon aus, dass die Vorfahren der Muisca aus dem zentralamerikanischen Raum, also Costa Rica und Panamá, eingewandert sind und zwar im 8. Jh. n. Chr. Mit den Chibcha-Völkern Zentralamerikas verbanden die Muisca nicht nur ihre Sprache, sondern auch prägnante Elemente ihrer Religion, die ihren Ausdruck fanden in der Gestaltung ihrer religiösen Kunst. Aber auch Einflüsse aus dem südamerikanischen Andengebiet sind klar zu erkennen.

Die Muisca

Das Volk der Muisca ging nach der Eroberung durch die Spanier im Jahr 1536 n. Chr. in der Mestizenbevölkerung auf. Ihre Sprache verschwand im 18. Jh., nachdem es schon fast einhundert Jahre lang keine Muisca-Siedlungen mehr auf dem Altiplano gegeben hatte. Um etwas über dieses Volk zu erfahren und seine Hinterlassenschaften zu verstehen, bleiben nur die historischen Wissenschaften der Archäologie und Ethnogeschichte.

Die Archäologie hat es jedoch schwer. Die kolumbianische Hauptstadt Santa Fé de Bogotá  belegt  auf
der Skala der am schnellsten wachsenden Städte der Welt nach Lagos (Nigeria) den zweiten Platz. Dieses  unkontrollierte Wachstum wilder Siedlungen zerstört archäologische Stätten, bevor sie überhaupt dokumentiert werden können. Begonnen haben dieses zerstörerische Werk jedoch bereits die spanischen Eroberer, die ihre Niederlassungen genau dort gründeten, wo die Paläste der Könige standen, und ihre Kathedralen und Kirchen errichteten, wo vorher in indianischen Heiligtümern Naturgottheiten verehrt wurden. Darüber hinaus fordert die rasch anwachsende Agroindustrie ihren Preis. Aus immer mehr Wiesen werden Felder, aus denen schon beim ersten Spatenstich Keramikobjekte und kleine Goldfigürchen ans Tageslicht befördert werden.

98 % der Goldobjekte des Museo del Oro in Bogotá stammen aus solchen Zufallsfunden oder gezielten Raubgrabungen. Die Fundumstände fehlen und die Wissenschaft ist auf kunsthistorische Interpretationen angewiesen, die letztlich nur schwer belegbar sind.

Erfreulicher stellt sich die Ethnogeschichte dar. Das kolumbianische Nationalarchiv besitzt große Schätze in Form von Dokumentenbündeln aus dem 16. Jh. Darunter sind Berichte von Teilnehmern der Eroberungszüge, allen voran der zu Zwecken der Missionierung mitgereisten spanischen Priester. Diese verfügten im Gegensatz zu den meisten Eroberern über eine gehobene Bildung. Einer der wenigen spanischen Feldherrn, der nicht dem niederen Adel der „Hidalgos“ angehörte und sich deswegen gewählt ausdrücken konnte, war einer der Eroberer des Muisca-Reiches, Gonzalo Jiménez de Quesada. Seine Berichte gehören zu den wertvollsten Quellen. Als weiterer Vorteil erwies sich für die Geschichtsschreibung, dass sofort nach der Gründung der spanischen Stadt Santa Fé de Bogotá dort eine „audiencia“, eine zentrale spanische Justiz- und Verwaltungsbehörde eingerichtet wurde. Diese „Audiencia de Santa Fé“ schickte Beamte, die „oidores“ aus, um Volkszählungen und eine Vielzahl anderer Erhebungen zur Festsetzung der Steuer und der Klärung von Besitzansprüchen durchzuführen. Die Akten dieser Beamten sind die Grundlage für die Erforschung der Kultur der Muisca zum Zeitpunkt der spanischen Eroberung. Der  überwiegende Teil der Kenntnisse, die im Folgenden dem Leser die Kultur der Muisca nahebringen mögen, stammen aus den Dokumenten des kolumbianischen Nationalarchivs.

Das Volk

Die über ein Gebiet von annähernd 20.000 qkm verteilt lebenden Musica – man geht heute von ungefähr einer Million Einwohnern aus – waren vorwiegend Bauern. Ihre Siedlungsgebiete grenzten sich durch niedrige Bergketten voneinander ab. Die Bauern lebten mit ihren Großfamilien in Häusern, die in unmittelbarer Nähe der Felder errichtet waren. Sie bauten vorwiegend Mais und Bohnen sowie Kürbisse, Kartoffeln und andere Knollenfrüchte an. Um einen möglichst hohen Ertrag zu erzielen, legten die Bauern in sumpfigem Gelände Hochbeete an, die durch kleine Kanäle voneinander getrennt waren. In diese Kanäle fielen die Pflanzenabfälle, die man dann regelmäßig als Dünger wieder auf die Beete schaufelte. Diese Anbaumethode ist in ganz Amerika sehr weit verbreitet. Leicht lässt sich der Ertrag eines solchen Hochbeetes auf das 20-Fache eines einfachen Feldes steigern. An den Randgebieten des klimatisch ansonsten recht einheitlichen Siedlungsgebietes baute man je nach Höhe und Niederschlagsmenge noch süßen Maniok und vor allem Baumwolle an.

Als Proteinlieferanten dienten Fische und erlegtes Wild. Schafe, Hühner und Schweine kamen erst mit den spanischen Eroberern ins Land.

Über ihre reichhaltige Nahrungsgrundlage hinaus verfügten die Muisca jedoch noch über Bodenschätze, die ihnen als wertvolle Tauschwährung im Handel mit Völkern aus den feuchtheißen Regionen des Magdalena-Tals oder dem Ostrand der Anden dienten. Dazu gehören die Solequellen nahe der heutigen Hauptstadt Bogotá, aus denen große Mengen an Speisesalz gewonnen wurden, die man, zu Salzlaiben geformt, leicht transportieren konnte. Von großer Bedeutung waren zudem Smaragdvorkommen.

Neben den Streusiedlungen der Bauern gab es Dörfer, in denen Handwerker wie  Goldschmiede und Töpfer lebten. Den größten Teil der Dorfbevölkerung stellten jedoch die Bediensteten der Häuptlinge, die im Zentrum der Dörfer in mit Holzzäunen umgebenen großen Häusern lebten. Sie zogen Steuern von den Bauern ein, bewahrten den abgelieferten Mais, die Baumwolltücher, Salzlaibe und vieles andere in ihren Höfen auf und gaben in regelmäßigen Abständen einen erheblichen Teil an den König eines der drei Muisca-Königreiche weiter. Neben ihrer Funktion als Steuereintreiber für den König hatten diese Häuptlinge jedoch noch weitere wichtige Aufgaben: sie waren gleichzeitig die religiösen Oberhäupter ihrer Gebiete und damit für das Wohlergehen der Bevölkerung verantwortlich.

Die Königreiche

Als die Eroberer einer Handelsroute aus dem Magdalena-Tal folgend das Gebiet der Muisca erreichten, nahmen sie drei große Machtbereiche wahr: das Territorium des „Zipa“ genannten Königs im Süden, nahe der heutigen Hauptstadt. Sein großer Widersacher, „Zaque“ genannt, beherrschte ein ähnlich ausgedehntes Gebiet im Norden des Altiplano. Als dritter, gleichrangiger Herrscher galt der König von Sogamoso, der gleichzeitig eine besondere Stellung als Hüter des Hauptheiligtums der Muisca einnahm. Diese drei Herrscher waren nicht nur an der Spitze der Sozialpyramide der Muisca, sondern sie waren auch die religiösen Oberhäupter der jeweiligen Königreiche. Sie hielten die bedeutendsten Rituale ab, führten Kriege zur Unterwerfung eines der anderen beiden Reiche, verteidigten das Gebiet gegen Angriffe aus den tropischen Regionen und bildeten eine Kriegerkaste aus, die für die Bewachung der Grenzen aller drei Reiche gegen äußere Feinde zuständig war.

Die Religion

Die Religion der Muisca war der Schamanismus. Im Zentrum des Schamanismus steht der gleichnamige Schamane, ein Mensch, der im Gegensatz zu einem Priester unserer Auffassung, seine Seele von seinem Körper abtrennen und auf eine Reise zu den verehrten oder gefürchteten Göttern schicken kann. Die Grundlage für den Schamanismus liefert das Weltbild der beseelten Natur. Alles in der Natur ist ein Lebewesen und hat eine Seele. Pflanzen, Tiere, Flüsse, Seen, Berge, alles ist beseelt, empfindsam, verwundbar, und muss dementsprechend behandelt werden. Der Mensch ist durch Opfergaben und andere Respektsbezeugungen in Form mehr oder weniger aufwendiger Rituale dazu verpflichtet,
sich im Einklang mit seiner natürlichen Umgebung zu befinden. Kommt dieser Einklang ins Ungleichgewicht – beispielsbeispielsweise durch das Ernten von Kartoffeln ohne sich vorher bei der Mutter Erde dafür zu bedanken, dass man ihr etwas wegnehmen darf – dann kommt Unheil über die Menschen. In Form von Naturkatastrophen, Krankheit, Unfällen oder wirtschaftlichen Problemen rächen sich die Götter für den Frevel.

Die Seelenreise des Schamanen ist kompliziert. Sie muss sorgfältig vorbereitet werden und birgt große Gefahren. Voraussetzung für die Abtrennung der Seele vom Körper ist die Trance, in die der Schamane fallen muss. Nur während er sich in Trance befindet, kann er auf „Seelenreise“ gehen. Um eine Trance hervorzurufen gibt es viele Möglichkeiten. Manche Völker benutzen Trommeln, rhythmische Musik und Tänze, um sich in eine Trance zu begeben. Andere wählten den Schmerz, der ihr Bewusstsein veränderte. Die meisten Völker Südamerikas jedoch benutzten halluzinogene Drogen, die sie zumeist aus Pflanzen zu gewinnen verstanden. Sehr häufig verwendet wurde die Ayahuasca-Liane (Banisteriopsis caapi), deren Rinde meist gerieben und mit Wasser gemischt als Saft getrunken bei Einnahme Halluzinationen erzeugt. In Peru war es der Saft des San-Pedro-Kaktus, der, wie der Peyote-Kaktus Mexikos, Mescalin enthält, das eine LSD-ähnliche Wirkung entfaltet. Alleine die Völker Amazoniens kennen über 200 berauschend wirkende pflanzliche Substanzen.

Dem Schamanen-Zubehör folgend, das auch bei den Muisca kleine Schnupftabletts enthielt, war die dort sehr häufig verwendete Droge ebenfalls Ayahuasca, im Amazonasgebiet Yagé genannt. Wahrscheinlich wurde die Rinde, die die höchste Konzentration des berauschenden Alkaloides aufweist, zu Pulver gerieben und geschnupft.

Während der Schamane in Trance, also auf Seelenreise ist, hat er Kontakt zu den Naturgottheiten und kann sie milde stimmen, ihren Rat erbitten oder ganz einfach das Verhältnis zu den Menschen im Gleichgewicht halten. Durch diese Funktion kommt dem Schamanen eine zentrale Stellung in seiner Gesellschaft zu. Die Macht der Könige, die gleichzeitig die höchstrangigen Schamanen waren, basierte auf ihrem direkten Kontakt zu den Göttern.

Das Gold 

Im Muiscagebiet selbst gab es nur sehr wenig Gold. Man musste es gegen Salz oder fein gearbeitete Baumwolldecken mühsam aus den Tälern der Zentralkordillere eintauschen. Um diesen Tausch durchzuführen, stellten die Muisca Händlerkolonnen zusammen, die sich in die Gebiete der oft feindlich gesinnten Stämme wagen mussten. Für das mitgebrachte Salz und die Baumwolltücher erhielten sie Gold und Rohbaumwolle.

Um die erforderliche Menge an Goldobjekten herstellen zu können, streckten die Goldschmiede der Muisca das Gold mit reichlich Kupfer. Diese Legierung wird „tumbaga“ genannt. Durch eine Behandlung mit Pflanzensäften lösten sie das Kupfer aus der Oberfläche, sodass die Schmuckstücke oder Figürchen golden erschienen.

Der Bedarf an Goldschmuck im Muiscagebiet war hoch. Nur dem Adel war es erlaubt, Goldschmuck zu tragen. Zu festlichen Gelegenheiten, so die Berichte der Chronisten, schmückten sich die Häuptlinge und ihre Angehörigen über und über mit Goldschmuck, um ihren Status sichtbar zu machen. Gleichzeitig benötigte man Gold zur Herstellung religiöser Kunst. Der Haupttempel der Muisca in Sogamoso war nach Angabe der Eroberer innen völlig mit Gold ausgekleidet. Und man benötigte Gold zur Herstellung der zahlreichen „tunjos“. Warum gerade Gold?

Wegen seiner sonnenähnlichen Farbe, seiner metallurgischen Eigenschaften (rostet nicht …) und vor allem seines Glanzes wurden ihm in vielen Kulturen Altamerikas transzendentale Fähigkeiten zugesprochen. Es war immer ein Symbol für das Göttliche, die andere Welt, das Jenseits.

Die „tunjos“

Die „tunjos“, kleine Figürchen aus „tumbaga“, gibt es nur im Gebiet der Muisca. Sie sind zumeist flach, zweidimensional. Einige wenige „tunjos“ sind dreidimensional und stellen bedeutende Rituale dar. Die flachen „tunjos“ benutzten die Muisca als Grabbeigabe für Verstorbene.

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Sie wurden in so großer Anzahl im Muiscagebiet gefunden, dass man auf eine weite Verbreitung schließen kann. Teilweise legte man die „tunjos“ in die Gräber, teilweise legte man sie auf das Grab oder stellte sie in einer Tonvase daneben. Hergestellt wurden die „tunjos“ im Wachsausschmelzverfahren oder „Guss in verlorener Form“. Hierfür fertigte der Goldschmied ein Wachsmodell an, das er mit einem Tonmantel umgab. Den Ton ließ er trocknen, dann erhitzte er den Mantel. In dem Moment, in dem das Wachs unten herauszufließen begann, füllte er oben das flüssige Gold ein. Der schließlich erkaltete Tonmantel wurde zerschlagen, das fertige Schmuckstück entnommen. Die Goldschmiede der Muisca waren Meister dieser Technik. Sie  waren sogar in der Lage, sogenanntes „falsches Filigran“ herzustellen.

Was jedoch erzählen uns die „tunjos“? Wie bereits oben erwähnt, gibt es neben den unzähligen flachen, zweidimensionalen „tunjos“ auch einige wenige dreidimensionale, die szenische Darstellungen sind. Der berühmteste „tunjo“ befindet sich im Goldmuseum in Bogotá: Es ist das Floß des El Dorado, des goldenen Mannes.

Das der Darstellung zugrunde liegende Ritual wurde immer bei der Neueinsetzung des „Zipa“, des Königs des südlichen Muisca-Reiches, auf dem Guatavita-See durchgeführt. Dazu bestrich sich der künftige König mit Wachs, bepuderte sich mit Goldstaub und bestieg zusammen mit einigen Gehilfen, reichlich ausgestattet mit Opfergaben aus Gold und Smaragden, ein Floß. Sie fuhren auf den See hinaus, sprachen Gebete, warfen die Opfergaben ins Wasser und sprangen schließlich selbst hinein. Nachdem der Goldstaub vom Körper des künftigen Königs abgewaschen war, war das Ritual beendet.

Ein zweiter dreidimensionaler „tunjo“ befindet sich im Ethnologischen Museum Berlin. Dieser „tunjo“ zeigt uns ein Fruchtbarkeitsritual, bei dem der Schamane – und gleichzeitig König – auf einem Hocker sitzend auf einem Bein ein Schnupftablett liegen hat und mit dem anderen Bein einen Blumentopf stützt, aus dem eine große Maispflanze wächst.

Diese dreidimensionalen „tunjos“ sind der Schlüssel zum Verständnis der zweidimensionalen oder flachen. Dargestellt sind nicht irgendwelche Schamanen mit willkürlich gewähltem Zubehör, sondern Handlungen, Rituale und die dafür vom Schamanen benötigten Dinge. Ein im Goldmuseum in Bogotá befindlicher „tunjo“ zeigt einen Zigarre rauchenden Schamanen. Ritualzigarren sind noch heute bei den Tukano-Völkern des Amazonas-Gebietes in Gebrauch. Sie leiten die Seelenreise ein.

Die „tunjos“ des Linden-Museums zeigen demnach, wie alle anderen auch, Schamanen (oder Schamaninnen) bei der Durchführung von Ritualen. Ihrem Gesichtsausdruck ist anzusehen, dass sie sich in Trance befinden. Auch die von den Muisca hergestellten menschenähnlichen Keramikfigürchen zeigen diesen Gesichtsausdruck. Ebenfalls weitestgehend einheitlich ist die Haltung der Arme und Hände. Die Arme sind fast immer abgewinkelt, die Finger gespreizt. Diese Haltung stimmt mit der Beschreibung von betenden Personen überein, die die Arme abgewinkelt hielten, die Handflächen nach oben gerichtet. Alle Personen sind reich geschmückt. Sie tragen teilweise helmartige Kopfbedeckungen, manchmal auch eine Art Krone. Viele haben Ohrringe und Halsketten. Zwei Figürchen halten einen Stab, der eine junge Maispflanze sein könnte. Häufig anzutreffen sind über der Brust gekreuzte Schmuckbänder, die aus aneinandergereihten kleinen Goldplättchen gearbeitet sind. Es sieht aus, als ob einer der Schamanen an seinem Gürtel einen kleinen Kopf trägt. Während es im alten Peru bei einigen Völkern Sitte war, die abgeschlagenen Köpfe getöteter Feinde am Gürtel zu tragen, ist solches aus dem Muiscagebiet nicht bekannt. Auch das Herstellen von Schrumpfköpfen ist bislang nicht überliefert. Da jedoch schriftliche Belege, die religiöse Dinge zum Inhalt hatten, von der Inquisition häufig eingezogen und vernichtet wurden, kann man nicht sicher sein, dass es solche Praktiken im alten Kolumbien nicht gegeben hat.

Ein in der Sammlung des Linden-Museums aufbewahrter „tunjo“ hat auf den ersten Blick die Gestalt einer Schlange. Bei genauerem Hinsehen erkennt man jedoch im Gesicht der Schlange menschliche Züge. Es scheint sich hier um eine der sehr häufig vorhandenen Mensch-Tier-Darstellungen zu handeln. Diese „tunjos“ zeigen Mischwesen, die ebenfalls mit dem Schamanismus in Verbindung stehen. Die Seelenreise des Schamanen birgt stets die Gefahr des Seelenverlustes oder des Seelenraubes. Um dieser Gefahr etwas entgegenzusetzen, nimmt der Schamane einen Schutz- oder Hilfsgeist auf die Reise mit. Dies sind meist Tiere, häufig die größten und stärksten einer Gattung. So sehen wir häufig Anakondas, Kondore, Harpyen, Kaimane und vor allem den Jaguar. Der Schamane nimmt dieses Tier nicht nur mit, sondern verwandelt sich während seiner Reise sichtbar vor allen Zuschauern nach und nach in dieses Tier. Diese Verwandlung ist häufig in Darstellungen der sog. Mensch-Tier-Transformation zu sehen. Derartige Objekte finden wir sehr häufig in der religiösen Kunst Altamerikas.

Vielen, vielleicht allen verstorbenen Muisca wurde also das Abbild eines die Seelenreise vollziehenden Schamanen mit in das Grab gegeben. Sollte er die Verstorbenen auf ihrer letzten Reise begleiten? Die meisten Völker Altamerikas glaubten an ein Leben nach dem Tode. Sie hatten klare Vorstellungen von der Beschaffenheit des Jenseits, in dem zumindest die Seele weiterlebte. Manche Völker kennzeichneten ihre Verstorbenen mit Bemalungen des Gesichts, damit sie von den Göttern dem richtigen Stamm zugeordnet werden konnten. Die Könige des alten Perus nahmen ihre Ausstattung an Gold- und Silberschmuck mit in ihr Grab, um im Jenseits ihrer Funktion als hochrangiger Ahne nachkommen zu können. Einfache Menschen erhielten Grabbeigaben, die auf ihre Tätigkeit hinwiesen. Weber erhielten Arbeitskörbchen und Textilproben, Töpfer bekamen Keramiken und Priester Tongefäße mit Bemalungen, die sie bei Seelenreisen und anderen Ritualen zeigten. Die im Linden-Museum aufbewahrte Keramik „Coca-Zeremonie“ gehört zu diesem Komplex.

Waren die „tunjos“ also Grabbeigaben für Schamanen? Geht man davon aus, dass es in jeder Siedlung Schamanen gegeben hat, wäre dies durchaus denkbar. Sicher sind die so zahlreich gefundenen „tunjos“ die wertvolle Hinterlassenschaft einer Kultur, die, wie so viele andere, die Ankunft der Europäer in der Neuen Welt nicht überlebte.

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