Ein Jahr Petro: Auftakt zu den Eln Friedensverhandlungen

    
    Beitragsautor:

    Wolfgang Chr. Goede, DKF-Mitglied
    Wissenschaftsjournalist München / Medellín 

    Für den Blog im August 2023
  
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Ein Jahr Petro: Auftakt zu den Eln-Friedensverhandlungen

„Revolution des Lebens und der Freiheit“ — „No muerte – vivir!“

Kolumbiens Präsident Gustavo Petro hat eine neue Revolution ausgerufen. Gewehre, Blutvergießen, Sterben für eine neue Gesellschaft sind passé. Jenes visionierten die Revolutionäre der 1960er Jahre, darunter die Eln und einer ihrer Begründer und Anführer, Camilo Torres, katholischer Priester und Befreiungstheologe. Nach einem Jahr im Amt und beim Eröffnen der 180-tägigen Friedensverhandlungsfrist mit dem „Ejército de Liberación Nacional“ verkündete Petro, selbst einst M19-Guerillero: Eine „Revolution des Lebens und der Freiheit“ – diese auch zur Abwehr des neuen Feindes, der globalen Erwärmung.

Der Großevent in Bogotá wurde von allen Teilnehmenden einmütig als historisch gewürdigt. Erstmals im 59 Jahre andauernden Krieg der Eln gegen den kolumbianischen Staat trafen sich Regierungs- und Guerillavertreter zu Befriedungsgesprächen mit Waffenstillstand. Dies wurde auch als erster Erfolg der Petro-Kampagne „Paz Total“ bewertet. Damit hatte er die Präsidentschaftswahlen 2022 gewonnen. Seither ist die Schaffung des „totalen Friedens“ Kernelement seiner Regierungspolitik, Tagesgespräch in Medien und auf den Straßen Kolumbiens.

Bei der 4-stündigen Übertragung der Veranstaltung des Nationalen Partizipations-Komitees durch Radio Nacional de Colombia RCN sprachen etliche Frauen über ihre Leben als Hauptopfer des anhaltenden bewaffneten Konflikts, besonders in den entlegenen ländlichen Regionen des Landes wie der Pazifikküste. Hierbei traten besonders Teilnehmerinnen mit indigener und colombo-afrikanischer Herkunft hervor, darunter auch „Palenqueros“, die sich mit den Sklaven der Kolonialzeit identifizieren. Gender-Spanisch wie „nosotros, nosotras y nosotres“ war immer wieder zu hören.

Unter den Sprechern waren auch Anhänger der „primera linea“, der Vordersten Front, jener Aktivisten, die beim Nationalstreik in Cali 2021 in Gewalt verwickelt und zu Haftstrafen verurteilt worden waren. Einige Sprecher nannten sie „Kriegsgefangene“ und forderten ihre sofortige Freilassung. Insgesamt waren sich alle Redner*innen einig, dass nur durch Beteiligung aller Bevölkerungsgruppen der Frieden erreichbar sei. Partizipation war der rote Faden der Veranstaltung, ihr Tenor, der wiederkehrende Terminus.

Deutliche Signale setzte der ehemalige Guerillakommandeur und Eln-Sprecher Israel Ramírez Pineda alias „Pablo Beltrán“. Die Zukunft Kolumbiens sieht er in einer politisch-diplomatischen Anlehnung an Kuba und Venezuela, das Rückzahlen der internationalen Kredite sowie Zinszahlungen zieht er in Zweifel, auch während des Waffenstillstands werde die Eln ihre „Finanzoperationen“ fortsetzen; welche, ließ er offen – nicht aber die sichtbare Eln-Beteiligung in der Regierungsarbeit im Falle eines Friedensschusses.

Kolumbiens Präsident Petro beschloss den Auftakt mit einer 40-minütigen Rede. Statt Gewalt und Hass, „die Erblast Kolumbiens“, wünschte er der Nation friedvollen Aufbruch, Hoffnung, Transformation. Der mächtigste aktuelle Feind der Weltgemeinschaft ist für ihn die Klimaerwärmung. Mit der bedingungslosen Dekarbonisierung der Energie hätten sich er und Kolumbien an die Spitze der internationalen Klimapolitik gesetzt. Die Guajira sei die Topregion dafür. Hier sollen statt Kohleabbau Zentren für die Produktion grünen Wasserstoffs entstehen (mit Solarenergie betriebene elektrische Spaltung von Wasser in Sauerstoff und Wasserstoff – wofür Petro auch unlängst bei einem Deutschlandbesuch und Treffen mit dem Bundespräsidenten und Regierung warb).

Petro zeigte sich als sozialistisch-reformorientierter Regierungschef. Trotz seiner rhetorischen Spitzen gegen den Kapitalismus und seine Wirtschafts- und Finanzeliten bekannte er sich auch zum Markt. Insgesamt verortet er die Zukunft der Welt „im Post-Kapitalismus“. Er kritisierte die Mauern und „Konzentrationslager“, mit denen Global-Nord die Flüchtlingsströme aus Global-Süd abzuwehren versucht; was im Mittelmeer an den Küsten der Geburtsstätte der Demokratie kein gutes Licht auf Selbige werfe. Mit Besorgnis verfolgt er den politischen Rechtsruck in Europa und die Zunahme „faschistischer“ Wähler.

Beim Kardinalproblem Kolumbiens, der Narco-Ökonomie, hofft Petro, dass neue synthetische Drogen den Koka-Markt austrocknen. Dazu hat er sich immer wieder geäußert, vor der UNO, auch in den USA und in Europa, den Hauptkonsumländern, nämlich dass der Krieg gegen Drogen gescheitert sei, der illegale Drogenhandel nur international gelöst werden könne, eventuell durch Legalisierung, so wie seinerzeit das Alkoholverbot in den USA die Mafia groß machte und gekippt werden musste.

Die Veranstaltung sollte Petros Einsatz für Paz Total krönen und auch eine Empfehlung für seine Regierung sein in den bevorstehenden Regionalwahlen. Medial geriet der Event allerdings in den Schatten der Gerichtsverhandlung gegen seinen Sohn Nicolás, der dubiose Gelder, u.a. aus Mafiakreisen in die Wahlkampagne seines Vaters fließen ließ. Petro versicherte zwar, dass er damit nichts zu tun hätte, doch das Schuldeingeständnis seines Sohnes macht seine ohnehin mürbe Regierungskoalition angreifbar. Der „Pacto Histórico“ zwischen Liberalen, Konservativen, Grünen hat mit etlichen Ministerrücktritten und Vorwürfen fehlender Ethik und Interessenskonflikten zu kämpfen. Auch der Kongress, der einen Friedensvertrag mit der Eln ratifizieren müsste, ging auf Abstand zum Präsidenten.

 

Neues Wandbild an Medellíns Metro-Station San Antonio: Kolumbien ist kulturell hochdivers und plurinational, aus vielen Ethnien bestehend.

 

KOMMENTAR

„Las leyes están para violarlas?“ – Die Gesetze sind zum Brechen da?

Kolumbien ist eines der geografisch und topografisch, kulturell und ethnisch zweifellos diversesten Länder der Welt. Wenn jemand dieses hochkomplexe Gebilde reiten will, ihm endlich den lang ersehnten Frieden schenken und sich dazu noch an die Spitze der überfälligen ökonomisch-sozialen Transformationsprozesse der Welt setzen will, der muss übergeschnappt sein – oder von großer Passion besessen sein. Letztere attestiere ich Gustavo Petro, und zwar über alle Grenzen von Rechts und Links sowie den allfälligen Schützengräben dazwischen hinweg.

Ich gestehe, ich selbst bin ein wenig Petrist, in den 1960ern so bewegt von den sozialen Ungerechtigkeiten Lateinamerikas, dass ich über Camilo Torres in der Kronshagener Christuskirche einen Friedensjugendgottesdienst veranstaltete. Als Kriegsdienstverweiger führten meine weiteren Wege mich freilich gewaltfrei über zivilgeschichtliches Engagement. Das brachte mich dereinst auch nach Kolumbien. Dort wurde ich in Istminas, Chocó, wegen des Teleskopobjektivs meiner Kamera absurderweise als M19 Sympathisant und kommunistischer DDR-Spion verhaftet. Gerade als mein Verhöroffizier angekündigt hatte, zu schärferen Maßnahmen zu greifen, erschien wie ein Wunder mein Schwager mit einem Rechtsanwalt aus der Familie. Statt Folter gab’s Aguardiente. Seit Gabo weiß die Welt: Colombia es magia.

Wegen dieses Hintergrundes verfolge ich diese Regierung und ihren Chef mit besonderer Neugier. Deshalb hier ein paar Beobachtungen zum historischen Eln-Friedens-Auftakt von Bogotá.

Drogen und Kokain bleiben die Achillesferse Kolumbiens. Pablo Escobar, dessen Grab in Medellín weiterhin von Touristen wie auch weinenden Anhängern umlagert wird, setzte ein bleibendes Denkmal. Der stets mit frischen Blumen geschmückte Grabstein liegt im Schatten des nahen Poblado, ein Manhattan-ähnlicher Ortsteil, der mit den erwirtschafteten Kokain-Geldern entstand. Die Narco-Ökonomie ist seither ein Faktum, allgegenwärtig, und Viele sind direkt und indirekt damit verbandelt, ob sie wollen oder nicht. Die Profite fließen ja ins Land und seine Wirtschaft zurück.

Auch Petro hat hierfür noch keine Lösung. Eine zeitnahe internationale Legalisierung wäre utopisch und die Hoffnung auf eine chemische Ersatzdroge eher ein Pfeifen im Walde. Die schnellen Dollars und Euros mit dem weißen Pulver bleiben für zu Viele eine viel zu große Versuchung.

„Totaler Frieden“ ist ein smarter Slogan, fast religiös, und wer, Freund oder Feind, würde dem nicht zustimmen? Doch die Umsetzung bleibt ebenfalls offen. Werden damit auch Bandenbosse begnadigt, mit denen aktuell verhandelt wird? Wer überhaupt hat noch den Überblick über die Vielzahl der bewaffneten Akteure im Lande und hat sie gezählt?

Der weiterhin nicht abgeschlossene und stolperhafte Friedensprozess mit der FARC, für den Ex-Präsident Santos den Friedensnobelpreis entgegennahm, hinterlässt einen bitteren Geschmack. Keiner weiß, ob der ehemalige Anführer und Dissident „Ivan Marquez“ in Venezuela noch lebt oder neue Keime des Aufstands sät?

Im Eln-Kickoff war zwar laufend von Partizipation und Inklusion die Rede, aber kein Wort fiel über die Methodik. Das klingt ein wenig nach Sonntagsschule. Am Ende geht’s um politische Macht und Neuaufteilung derselben. Real-Politik, wie Kissinger sagte.

Laut allen Medien ist die Sicherheit im Lande, auch gefühlt, während Petros Präsidentschaft gesunken. Speziell in der Peripherie, insbesondere gegen Frauen, weiterhin auch soziale Führer, was immer seinem rechtskonservativen Vorgänger Duque vorgeworfen worden war. Wie der Total-Friede funktionieren soll bleibt nebulös, ist eher eine moralische Ansage. Das umstrittene Gegenmodell, „Null Toleranz“, das El Salvadors Staatschef Nayib Bukele nach asiatischem Vorbild praktiziert, ist vielen Kolumbianern eingängiger.

Mit seiner Energiewende propagiert Kolumbiens Staatschef eine „Weltmacht des Lebens“. Aber wie weit ist Deutschland in über einem Jahrzehnt mit seiner Energiewende gekommen? Am Ende stellte sich eine fatale Abhängigkeit vom Russengas heraus. Auch deshalb antichambriert Berlin in Bogotá für grünen Wasserstoff.

Wie realistisch ist der? Wo selbst im technologisch fortgeschrittenen Medellín bisher kaum eine Solarpaneele zu entdecken ist. Und ein Motorrad oder Auto weiterhin das Nonplusultra der meisten Familien ist, die Straßen zu fast jeder Tageszeit hoffnungslos verstopfend. Metrobau ist keine Raketenwissenschaft. Aber ein Schienennetz hat Petro in seiner Zeit Bürgermeister in Bogotá nicht zustande gebracht. Was für ein titanischer Akt wäre dann erst eine flächendeckende Dekarbonisierung?

Korruption: Kolumbiens Medien sind voll davon, Staatsgelder versickern auf dem Weg in die Zielprojekte. Ein weißer Elefant, der überall zu stehen scheint. Gigantismus: Ob das 2500 Megawatt Wasserkraftwerk Ituango jemals voll ans Netz geht oder bereits als Ruine abgeschrieben ist, wird aus der Polemik der letzten Jahre nicht klar.

Zoom auf die Mikroebene: Wenn die Leiterin einer Dorfschule Jahre nach Erreichen des Pensionsalters, bar jeglicher Digitalkenntnisse trotzdem weiterarbeitet, ohne dass Einspruch erfolgt, weder von Behörden noch von Eltern – wie wird Petros berechtigter Appell für eine weiterführende Bildung für Alle und eine „Wissensökonomie“ Schul- und Landesalltag?

Die Bodenreform – ein altes Thema seit Entstehung der Guerilla. Für den Ankauf landwirtschaftlicher Flächen für die Vertriebenen hat die Regierung erhebliche Gelder bereitgestellt. In der Realität aber wollen immer weniger Kolumbianer Campesino sein. Auch weil Agrarprodukte in der Produktion nur Kleingeld einbringen. Riesige Flächen bleiben unbeackert, sind Kuhweiden, allenthalben Fleischfabriken. Industrialisierung und Schaffen hochwertiger Arbeitsplätze wäre ein Gebot der Zeit, auch um die kostspieligen Importe von Technologieartikeln herunterzufahren. Petro schaut sehnsüchtig auf China – doch eine eigene umfassende Reindustrialisierungsstrategie hat er bisher nicht.

In Kolumbien geht es um nichts Geringeres als einen neuen Gesellschaftsvertrag, Rousseaus berühmten „Contrat Social“. Wie lässt sich das Vertrauen seiner Bürgerinnen und Bürger in ihre Regierenden und Staatsspitze stärken? Die Familie und der Clan liegt ihnen näher als der Staat. Dessen Gesetze? „Die sind dazu da, gebrochen zu werden“, ist oft zu hören.

Das hat Gründe, zeugt von Misstrauen, vermutlich meist berechtigt, deutet auf eine fehlende demokratische Kultur, Respekt für die staatliche Autorität. Und zeigt sich bspw. darin, dass Motorradfahrer ihre Helme in der Armbeuge spazieren fahren, helmlos an Polizeipatrouillen vorbei, ohne für diese Gesetzesverletzung gestoppt zu werden.

Señor Presidente, mag angesichts Ihrer ambitionierten, respektablen, überfälligen, hoffentlich Früchte tragende Reformarchitektur trivial klingen: Aber begönne Paz Total nicht hiermit?

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