Auf eine Tasse Café con Leche

Corona-Update

San Jerónimo. Colombia 30. Juli 2020

Wolfgang Chr. Goede

 

Auf eine Tasse Café con Leche

Mit Anneli Seifert (AS) und Luisa Friederici (LF) über Herausforderungen für Medellíns Alexander von Humboldt Kulturinstitut in Corona-Zeiten.

Der Mauerfall. Diese weltpolitische Zäsur brachte das Alexander von Humboldt Kulturinstitut in Medellín hervor. Bis 1994 hatte das Goethe Institut die Stadt mit Sprach- und Kulturangeboten versorgt. DiesesDoppelpaket erfreute sich großer Popularität in der Hauptstadt der „Paisas“. Mit dem Ende des KaltenKrieges mussten Goethe Institut und Auswärtiges Amt ihr Budget auf mehr Länder verteilen. Das GoetheInstitut Medellín wurde Opfer des Rotstiftes. Dies war die Stunde von Anneli Seifert, bisher Goethe-Deutschlehrerin und in Medellín aufgewachsene Tochter deutscher Einwanderer. Mit einer Handvollmutiger Kollegzinnen hob sie „Humboldt“ aus der Taufe. Jetzt ringt die Leitung mit einer neuen Zäsur: derCorona-Krise und ihren Verwerfungen. DKF Mitglied Wolfgang Chr. Goede lud zum Interview via Zoom. Wie geht’s dem Goethe-Nachfolger? Wie manövriert er durch Corona? Und welche unerwartetenGlücksfälle dabei helfen?

DKF: Glückwunsch zu Eurer frisch aufgesetzten Webseite. Eine optisch-informative Fiesta an Information: Kurse, Weiterbildung in Deutschland, Kulturevents — einedeutsche Insel inklusive gutbestückter Bibliothek inmitten der Vier-Millionen-MetropoleMedellín. Der Webseite ist zu entnehmen, dass Ihr umgezogen seid?

AS: Ja, im Januar. Einen Block weiter, weiterhin im Stadtteil Calasanz, bequem in Reichweite der Metrostation Floresta. Nach bereits mehreren Umzügen in den letzten25 Jahren haben wir Anfang des Jahres 2020 unseren Traum realisiert: größere undhellere Räume.

DKF: Kaum neueröffnet, funkte im März Corona COVID-19 dazwischen.

AS: Das war ein herber Schlag. Aber wie vielen anderen Sprachinstituten, Schulen, Universitäten in Medellín gelang es uns, innerhalb weniger Tage vom analogenPräsenz-Modus auf den digitalen online Modus umzuschalten. Dank Luisa, unserer akademischen Direktorin.

LF: Fünf Jahre lang habe ich mich im digitalen Sprachunterricht fortgebildet, unter anderem als zweimalige Goethe-Stipendiatin. Diese Erfahrungen kamen uns beimvirtuellen Neustart sehr zupass.

DKF: Respekt Manch etablierte und erheblich besser ausgestattete Bildungseinrichtung in Deutschland könnte von Euerm digitalen Schwung lernen. Aber erst einmal zu den Gründerjahren. Eine Institutsgründung ist kein Klacks. Was warendie Herausforderungen, Anneli?

AS: Mit einem Eigenanteil von je einer halben Million Pesos kauften die Gründer das Mobiliar und einige pädagogische Materialien des Goethe Instituts. Das war damalskein Pappenstiel, reichte aber auch nicht für große Sprünge. Bei der Namensfindung taten wir uns schwer. Wir überlegten hin und her, zwischen Schiller und Leibniz,einigten uns dann auf den in Kolumbien wegen seiner Forschungsreisen so beliebtenAlexander von Humboldt. Kein anderer Deutscher ist hier populärer und steht mehrfürs Deutschsein als er.

DKF: Auf Eurer Webseite seid ihr mit dem Goethe Institut und DAAD verlinkt. Wie hab Ihr das geschafft?

AS: Unser Zuspruch bei der Bevölkerung war so groß, dass wir nach einigen Jahren eine Botschaftsförderung erhielten. Daraufhin erfolgte die Registrierung beim GoetheInstitut. Mit der Einrichtung in Bogotá arbeiten wir seither eng zusammen und nehmenan Schulungen teil. Das ist ein Riesenvorteil, bei eigener institutionellerUnabhängigkeit. Seit sieben Jahren sind wir nunmehr auch anerkanntesPrüfungszentrum für die Goethe Prüfungen Al bis B2, Abschlüsse und Zertifikate in deutscher Sprache.

DKF: Und wie funktioniert das mit der Kulturarbeit?

LF: Über Goethe erhielten wir im letzten Jahr rund 13.000 Euro aus dem auswärtigen Kulturbudget für die Pflege und Verbreitung deutscher Sprache und Kultur hier in Medellín. Das erscheint auf ersten Blick viel, besonders für Kolumbien. Aber wenn man Reisekosten und Honorare für die Kulturschaffenden und Künstler abzieht, bleibt davon nicht so viel übrig.

DKF: Was sind Eure Kultur-Highlights?

AS und LF: Die Kolumbientour der Münchner Band Jamaram, bekannt für Reggae,Funk, Latin und Blues, war vor drei Jahren ein großer Erfolg. Der Theatersaal der EAFIT Universität hier in Medellín proppevoll. Ebenso wie die „Catedral Metropolitana de Medellín“ beim Orgelkonzert von Christian Schmitt. Der über 50 Meter hohe und größte Lehmziegelbau der Welt beherbergt die berühmte Walter-Orgel, für 350.000 Euro Spende aus Deutschland saniert. Sie erklang wieder unter dem kunstvollen Spiel des Organisten.

DKF: Beide Veranstaltungen habe ich miterlebt. Der überwältigende Zuspruch von Jung und Alt war für mich persönlich ein frischer Zugang zu deutscher Kultur und ihrer Vielfalt Auch mit einem Gefühl des Stolzes, den man in Deutschland so nicht empfindet Woran erinnert Ihr Euch sonst noch gerne?

AS: Der Komponist und Stummfilmpianist Stephan von Bothmer war schon viermal hier. Die Schriftsteller Paul Maar und Uwe Timm haben aus ihren Werken gelesen. Auch Sprachkritiker und Bestsellerautor Bastian Sick („Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“) hat uns die Ehre gegeben.

LF: Ein besonders geschätzter Service muss erwähnt werden. Während in Deutschland solche Veranstaltungen zum Teil hohe Eintrittsgelder verlangen, sind sie hier für alle gratis.

DKF: Sind das einmalige Events oder gibt’s darüber hinaus auch eine kontinuierlichere Zusammenarbeit in bilateraler Kulturpflege?

LF: Wir arbeiten an einer größeren Nachhaltigkeit der Beziehungen. Etwa dass die Künstler an den Unis Workshops veranstalten. Zwischen dem Stadtteil Moravia, der auf einer Abfallhalde entstand, und Stadtplanern in Berlin gibt’s ein gemeinsames Projekt. Das wird auch vom Goethe Institut Bogotá finanziell unterstützt.

DKF: Statt Einbahnstraße von Deutschland nach Kolumbien wird es künftig mehr wechselseitigen Austausch geben?

AS: Idealerweise ja, aber Kultur und Kunst werden hier in Kolumbien staatlich kaum gefördert, sodass die Anstöße von hier nach drüben entsprechend schwach sind.

DKF: Manchmal nimmt die gegenseitige Kulturförderung wundersame eigene Wege. Botero mit seinen dicken Menschen war viele Jahre lang ein No-Name. Mit einer Ausstellung im Münchner Lenbachhaus erlebte er seinen künstlerischen Durchbruch. Aus Dankbarkeit posiert er seither auf vielen Fotos im bayerischen Trachtenjanker.

LF: Paisas (Bewohner des Departements Antioquia) und Bayern haben eines gemeinsam, das selbstbewusste „mir san mir“. Vielen Kolumbianer*innen aber fehlt es ein wenig an Stolz über ihre Kultur, Traditionen, Lebensweisen. Ihr Selbstwertgefühl sollten wir mittels moderner Pädagogik stärken. Sprachunterricht bietet dafür viele Möglichkeiten.

AS: Stolz etwa auf leckere Arepas (Maisfladen). Garantiert glutenfrei. Hilfe und Rettung für unzählige Allergiker dieser Welt.

DKF: Deutschland umwirbt auch Kolumbianer, um seinen Pflegekräftenotstand von 50.000 unbesetzten Stellen auszugleichen. Thema für Euch?

LF: Ein großes. Zehn Angeworbene haben unsere Deutschkurse bereits durchlaufen, das B2 Zertifikat erworben und sind mittlerweile in deutschen Krankenhäusern tätig. Das Vermitteln der Sprache ist Ochsenarbeit für uns alle. Der Stoff von drei Jahrenmuss in sechs Monaten vermittelt werden. Das bedeutet Fulltime für beide Seiten, einen ganzen Arbeitstag lang lehren und lernen.

DKF: Wie reagiert Deutschland auf die Kolumbianerinnen?

LF: Unsere Absolventen freuen sich, dass sie so herzlich in den deutschen Kliniken aufgenommen worden sind. Sprachlich kommen sie gut mit. Überrascht sind sie, wie schnell man sich bei der Arbeit duzt. Gruppen von jeweils zwölf, dreizehn und neun Krankenpflegekräften sind derzeit bei uns noch im Unterricht und Sprachtraining.

DKF: Was sind die Vertrags- und Arbeitsbedingungen?

LF: Ein inklusives Rundumpaket, bei dem alles bezahlt wird. Sprachkurs, für dessen Dauer das Gehalt weitergezahlt wird, Reisekosten. In Deutschland verpflichten sich die Ausreisenden für zwei Jahre. Ihr Arbeitsvertrag ist aber unbefristet, sodass sie praktisch für immer bleiben können.

DKF: Viele Latinos in Deutschland plagt großes Heimweh.

DV-Magazin Nr. 97 Juni 2020 – Absolvent*innen der ersten Gruppe von Pflegekräften am AvH mit ihren Goethe-Zertifikaten (Fotorechte: Luisa Friederici)

AS: Die Bewerberinnen motiviert die bessere Bezahlung mit der Möglichkeit, davon ihre Familien unterstützen zu können. Die Aussicht, an neuen Technologienfortgebildet zu werden, erleichtert weiterhin den Entschluss.

 

DKF: Erlaubt bitte eine Frage zu Euch persönlich. Wie lebt’s sich als Grenzgänger zwischen den Kulturen?

 

AS: Hier in Kolumbien muss man immer dreimal nachfragen, ob etwas erledigt ist. Das ist aufwendig. Gleichzeitig herrscht viel Toleranz, wie café con leche, mit mal mehr, mal weniger Kaffee oder Milch. Grundsätzlich haben beide Kulturen die gleiche Wiege und lassen sich gut verkoppeln.

LF: Wir Deutsche genießen in Kolumbien einen guten Ruf. Das ist ein Privileg und erleichtert das Leben. Hier wird weniger gemeckert als in Deutschland, auch weniger beurteilt und verurteilt. Die Menschen drüben sind verkopfter und weniger spontan. Während wir hier mehr Gestaltungsmöglichkeiten besitzen. Als ich vor zehn Jahren nach Medellín kam, wurde ich in der Metro noch angestarrt und die Leute raunten: „Mona, Mona“ (Blonde, Hellhäutige). Das passiert heute nicht mehr. Medellín ist viel internationaler geworden, die Hautfarben vermischen sich mehr. Wenngleich deren Tonalität weiterhin eine Rolle spielt.

DKF: Wie blickt Ihr in die virtuelle Zukunft?

AS: Kulturarbeit via Bildschirm wird schwer, finde ich. Gestern habe ich mir ein virtuelles Konzert angesehen. Die Künstler in drei Meter Abstand und mit Mundschutz. Kein Riesengenuss. Infolge der Pandemie haben wir zwar viele unserer Schülerinnen verloren. Aber nicht zuletzt mit der Pflegepersonalschulung konnten wir viele Verluste auffangen. Und wir haben gelernt, dass Videokonferenzen viel einfacher, billiger und umweltfreundlicher sind, als etwa nach Bogotá zum Goethe Institut zu düsen.

LF: Im Online Modus können wir weit über die Grenzen der Stadt hinaus unterrichten. 70 Prozent des Landes haben mittlerweile Internet. Ein Riesenmarkt für unseren Unterrichtsbetrieb.

DKF: In Kolumbien gibt’s noch keine Corona-Entwarnung. Im Gegenteil: gerade wurde die Quarantäne wegen steigender Infektionskurven erneut verlängert bis Ende August. Was sind Eure Prognosen?

LF: Während mittlerweile vier Monaten Quarantäne habe ich viermal meine Wohneinheit verlassen. Wenn man durch Medellín fährt, sieht man viele rote Tücher von Hilfebedürftigen. Die Not ist groß. Gleichzeitig haben wir alle in dieser Zeit erlebt,wie wenig wir an materiellen Dingen brauchen. Das Wichtigste sind Gesundheit und Familie.

AS: Uns in Kolumbien fällt Verzicht leichter als in den Ländern des Nordens. Zum Bewältigen der Krise werden die Familien noch enger zusammenrücken.

DKF: Ein Schlusswort, bitte?

AS und LF: Wir danken all unseren Lernenden und Lehrenden, die mit uns durch diese schwierige Zeit gehen. Wie wir sehen, stecken in der Krise auch Chancen. Wo sich Türen schließen, öffnen sich viele neue.

Links:

Alexander von Humboldt Kulturinstitut Medellín Webseite:https://avhmedellin.co/

Deutsch von Null auf B2 in sechs Monaten — geht das? IDV Magazin Nr. 97, Juni 2020, S. 49ff. Ko-Autorin Luisa Friederici, AvH Akademische Direktorin https://idvnetz.org/wp-content/uploads/2020/06/1DV-Maqazin-JUNI-2020.pdf

Garcia-marquesk

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Corona-Update
San Jerónimo 20. Juli 2020
Wolfgang Chr. Goede

 

Heute am 20. Juli 2020 ist Kolumbiens Nationalfeiertag*. 210 Jahre Unabhängigkeit. Eine ein wenig andere Würdigung aus San Jerónimo, Antioquia.

Garcia-marquesk ist eine kühne Wortschöpfung des Autors. Die deutsche Adjektivierung Gabriel Garcia Márquez‘. Wie kein anderer steht der Nobelpreisträger für Kolumbien, seinen Surrealismus und seine Magie, groteske Absurditäten, singuläre Schönheiten und Charme. Diesen Cocktail hat Gabo meisterhaft in Worte geschlagen. „100 Jahre Einsamkeit“ und viele seiner Werke sind Mythen und Märchen aus der Vergangenheit und gleichzeitig Abdruck einer Realität, die abendländische Rationalität und Aufklärung scheinbar sprengen. Fragt sich, ob nur Kolumbien garcia-marquesk ist. Sind der Rest der Welt, unsere Kultur vielleicht sogar garcia-marquesker?

Es ist 8.30 Uhr in der Frühe. Unser Kühlschrank schwächelte. Jetzt hat er zu brummen aufgehört. Darin alles lauwarm. Das geht schon eine Weile so. Reparaturleute kommen und gehen. Unverrichteter Dinge. Hier muss was geschehen. Sofort! Der Verwalter geht unwillig an sein Handy. In Rekordzeit nach nur 15 Minuten erschallt von der Eingangspforte eine Motorradhupe. Ein Kühlschrankfachmann ist da und nimmt flugs die Elektronik des Geräts auseinander. In dem Moment kündigt sich auch ein lange überfälliger Mechaniker an. Der Verwalter zuckt hilflos die Achseln: „Wochenlang kommt keiner, plötzlich alle.“

Ist das garcia-marquesk?

Nein, Effizienz und Action, wenn man ein wenig Druck macht. Das machen wir Deutschen gerne. Aber aufgepasst! Damit verletzt man leicht Gefühle und Stolz der Kolumbianer. Bei uns ist das Fell dicker gegenüber Druck. Mit dem Risiko, dass der so dringend notwendige Handwerker auf stur schaltet und in Gänze abtaucht.

Kolumbien bleibt für viele ein ewiges Rätsel. Allein der Blick über die Andenkordilleren, verhangen, erhaben, geheimnisvoll. Schweigende Zeugen einer turbulenten Vergangenheit. Ergebnis des Zusammenstoßes von Erdplatten. Und der von Kulturen und Menschen.

Die Menschen, fast alle ausnahmslos freundlich. Aber was denken sie? Warum gibt es bei so viel Wärme so viel Blutvergießen? Konquista, Violencia, Pablo Escobar, FARC … Liebe, Ärger, Hass sind hier anders skaliert. Emotionen schlagen in alle Richtungen leicht hoch, enteilen rasch der Kontrolle. Vielleicht entschuldigen sich die Menschen deshalb so häufig. Um Konflikten im Keime bereits die Reißzähne zu ziehen.

Die Indigenen. Bei so viel Fröhlichkeit und Lockerheit der kreolischen Kolumbianer stechen die Überlebenden der Ureinwohner mit ernst-traurigen Gesichtern hervor. Wieviel Leid, Herabsetzung, historisches Unrecht verbergen sich dahinter? Eine Bevölkerung, die von Konquistadoren und Kolonisatoren regelrecht ausgelöscht worden ist. Deren Holocaust.

Garcia-marquesk?

Was könnten uns die indigenen Kulturen alles an Lebensweisheit verraten? Naturheil- und Naturkunde? Wie ihre so beeindruckenden Hochkulturen funktionierten? Die heute Überlebenden wissen es nicht mehr. Wir deshalb auch nicht. Unsere Quellen sind die der Spanier mit ihrem Blick auf die in ihrer Wahrnehmung gottlosen Untermenschen.

Die Fahrt zu den Küsten an Atlantik und Pazifik führt zu den Afro-Kolumbianern. Die wochenlangen Proteste der Afro-US-Amerikaner im Sommer 2020 haben uns die Augen geöffnet für die Schwarzen in den Amerikas. Die Demos waren Antwort auf die brutale Ermordung von George Floyd durch Polizisten in Minneapolis. Die ehemaligen Sklaven aus Afrika werden bis heute schikaniert, diskriminiert, getötet. Schwarz und Weiß bleiben, nicht nur farblich, Welten extremer Kontraste.

Unruhen auch in England. Dort wurden Statuen von Honoratioren von ihren Sockeln gezerrt, als Sklavenhändler und Rassisten entlarvt. Ein Kolumbus geköpft. Gleichwohl, viele andere Völker waren nicht viel zartbesaiteter beim Unterwerfen anderer Völker. Inklusive die der Amerikas. Inka, Maya, Kariben, Chibchas. Pardon, der gute Indianer ist ein Märchen.

Garcia-marquesk?

Kolumbien ist voller Märchen und Mythen. Rund um wilde Tiere, Verstorbene, die plötzlich als Wiedergänger erscheinen, als Geister, Gespenster, über den Himmel ziehen. Garcia Marquez‘ Geschichten wimmeln davon. Aber die Quantenmechanik weiß: Alle Materie ist Energie und miteinander verbunden. Insofern gibt’s für das Garcia-Márquez’sche Zerfließen von Realität und Historie, Traditionen und Mythos eine starke wissenschaftliche Komponente.

Garcia-marquesk?

Literaturwissenschaftlich ist diese Betrachtung über Meister Gabos magischen Realismus vermutlich viel zu plump und dilettantisch. Die Profession wäre vermutlich bereits kreischend die Wände hochgerannt.

Aber schlagen wir mal weiter in die Kerbe. In San Jerónimo (kolumbianische Kleinstadt zwischen Medellín und Sta Fe de Antioquia) machen hahnebüchene Gerüchte die Runde. Sie könnten für einen garcia-marquesken Bürstenstrich taugen. Dass für jeden Corona-Toten die Regierung 30 Millionen Pesos zahle und dass jeder, der zum Arzt geht, sich automatisch infiziere.

Ungewissheiten und Ängste treiben kuriose Blüten in einer Landgemeinde. Menschen mit oft nur ein paar Jahren Schulbildung. Verschwörungstherorien sind Deutschland auch nicht fremd, selbst und besonders unter Forschern. Die renommierte Akademie Tutzing macht demnächst eine ganze Konferenz zu Verschwörung in der Wissenschaft.

Wenn der örtliche Schweißer beklagt, dass Autos vormals Jahrzehnte hielten, heute nur noch ein paar Jahre, weil viele Teile nicht mehr ersetzbar sind und dass er dahinter ein Komplott der Industrie vermute, ist das nicht unbedingt Verschwörung, sondern Realität – unsere ungeschminkte Konsum- und Wegwerfwirklichkeit. Ausplündern eines Planeten für fragwürdiges Wachstum und Bequemlichkeit.

Garcia-marquesk?

Die paramilitärischen Zwischenfälle hier in den Andentälern, bei denen kleine Diebe erschossen wurden, weil Polizei und Gericht die Augen zudrücken, könnten Stoff für Garcia-Marqueskes abgeben. Viele Einheimische finden Selbstjustiz richtig, weil auf hoheitlich staatliche Organe kein Verlass sei und sie korrupt seien. Es gibt Länder, in denen jeder Bürger einen Eindringling in seinem Garten erschießen darf. Mit staatlich geschütztem Recht auf eigene Feuerwaffe und Selbstverteidigung.

Garcia-marquesk?

Unterdessen hält die Pandemie die Welt weiterhin im Klammergriff. Leichte Grippe? Genesene werden rückfällig. Impfstoffe sorgen vielleicht nur für ein paar Monate für Immunität. Nichts Genaues weiß man nicht nach sechs Covid-19 Monaten. Trotz aller Wissenschaft. Unheimlich. Wo kommt das Virus her? Wo geht’s hin? Was macht’s mit uns? Ein Präsident, der das Virus lange als Fake behandelte, worüber Zehntausende von Bürger*innen verstarben, erscheint neuerdings mit Gesichtsschutz in der Öffentlichkeit – und einer neuen Haarfarbe. Während eine digital-stalinistische Spätdiktatur mauert, sich jeglicher Ursachenforschung über die Herkunft des Virus verschließt.

Ja, wie garcia-marquesk ist denn das? Was Gabo daraus für Geschichten hätte weben können!

PS: Der Kühlschrank funktionierte wieder. Doch nach zwei Tagen kehrte er in den Schweigemodus zurück. Just als wir reklamieren wollten, sprang er wieder an und tat seinen Dienst. Mittlerweile ist er wieder verstummt. Garcia-marquesk?

*) Zum Wochenende des Nationalfeiertags gibt es in vielen Teilen Kolumbiens Alkoholverbot (ley seca) und nächtliche Ausgangssperren (toque de queda). Das soll das Corona-Virus und Infektionen eindämmen helfen.

Der Bildungsreise-Pionier

Corona-Update

Medellín14. Juli 2020

Wolfgang Chr. Goede

 

Der Bildungsreise-Pionier

 

DKF Interview mit Markus Jobi, CEO der Reiseagentur Palenque Tours in Medellín: Über Pioniergeist, Deutsch-Sein, Corona-Optimismus.

Markus Jobi gehört zu Medellíns bunter Gemeinde von Expats. Viele sind mit Beginn der Corona Pandemie in ihre Heimatländer zurückgekehrt. Markus Jobi, Begründer und CEO von Palenque Tours, ist geblieben. Ein Self-Made-Man, der mit seinem Studium der Lateinamerikanistik in Köln nach Medellín kam. Und dann, wie so viele andere deutsche Geschäftsleute in Kolumbien, die entweder gleich blieben oder nach kurzem Heimataufenthalt zurückkehrten, die Reiseagentur Palenque 2012 in Medellín gründete. Sie ist Repräsentant nationaler und internationaler Reiseveranstalter. Palenque hat einen umfangreichen Reisebaukasten für die verschiedenen Regionen und Attraktionen des Landes entwickelt. Daraus stellt es individuelle Reisepakete für Kleingruppen und Einzelreisende zusammen und betreut sie von der Ankunft am Flughafen bis zum Moment der Abreise. Die Zielgruppe für diesen Komplettservice sind Angehörige des gehobenen Mittelstandes, Menschen über 60 — Typus Bildungsreisende, die viel über die Kultur lernen und ihr Leben damit bereichern möchten. Ökologie, Naturschutz und nachhaltiges Reisen sind für Palenque Programm.

DKF: Lieber Markus, mit Palenque verbinden wir die berühmten Maya-Pyramiden in Mexiko. Wofür steht Palenque hier in Kolumbien?

MJ: So hießen die Dörfer entlaufener Sklaven bei Cartagena. Die haben wir zu unserem Markennamen gemacht.

DKF: Was sucht der typische Palenque-Reisende?

MJ: Drei Wochen lang Kolumbien erleben. Eine beliebte Route ist diese: Von den archäologischen Ausgrabungen in San Agustin via Kaffeezone nach Medellín. Der Hauptteil unserer Kunden kommt aus Nord- und Westeuropa, den USA und Kanada. Wobei die Europäer anspruchsvoller sind und gerade die Deutschen eher vom Typ Weltenbummler sind.

DKF:Was verlangt Ihr von Euern Reiseführern?

MJ:Die müssen sich auf dervonden Kundengewünschten Reiseroute nichtnurbestens auskennen. Sie müssen mit Menschen unterschiedlicher Kulturen auch gut umgehen können undCharme besitzen. Des Weiteren müssen sieimBesitz eines offiziellen Zertifikats für Reiseführung sein und dafür eine Ausbildung absolviert haben bei der SENA (Servicio Nacionalde Aprendizaje — eine Art landesweite Berufsschule). Dazu gehört auch ein Erste-Hilfe-Kurs. Als ich anfing,wardas Reisegewerbe inKolumbiennoch viel weniger reguliert mit Vorschriften. SiesindTeil der fortschreitenden Professionalisierung im ganzen Lande.

DKF: Die meisten Menschen auf der Welt verbinden Medellín auf Anhieb mit PabloEscobar, Mafia, Drogen. Wie geht Ihr als Reisebranche damit um?

MJ: Vor allem Netflix und die Narcos-Filme halten diesen Ruf am Leben. Davon profitieren Medellín wie auch der Tourismus. Die Escobar-Tourwirdvon vielen Reisenden nachgefragt. Das ist umstritten, gleichwohl können wir die Geschichte Medellíns nicht ignorieren, sondern müssen uns auch als Reiseagentur damit auseinandersetzen und Gästen entsprechendes anbieten. Vorbild dafür ist die Stadtverwaltung selbst mit dem Programm „Medellín abraza su historia“(Medellín umarmt seine Geschichte).Wovon wir uns allerdings fern halten sind Nachttouren, um uns und unsere Gäste von Prostitution und Drogen abzugrenzen und davor zu schützen.

DKF: Wenn ich mir Eure Webseite ansehe, dann seid ihr ja fast die Studiosus Bildungsreisen Kolumbiens.

MJ: Das ist richtig. Wir pflegen beste Beziehungen zu den Kultureinrichtungen der Stadt. Und bieten auch schon mal eine Lesung in einem gehobenen Hotel an zu Literatur oder zur sozialen Transformation der Stadt. Jüdischen Besuchern aus den USA konnten wir sogar den Blick in die jüdische Kultur Kolumbiens öffnen. Der Rabbiner der hiesigen Synagoge empfing uns und führte uns durch das jüdische Leben der Stadt.

DKF: Apropos Transformation, wenn man so lange wie du in Kolumbien lebt und so intensiv in Gesellschaft, Kultur, Geschichte eintaucht, wie ändert sich der Blick auf Deutschland?

MJ: In Deutschland bin ich nur noch Besucher. Wenn’s geht zu Weihnachten. Ich komme aus einem Städtchen bei Köln mit 4000 Einwohnern. Das tickt anders als Medellín. Hier in Kolumbien wird man mehr Patriot, weiß deutsche Pünktlichkeit, Verlässlichkeit mehr zu schätzen. Allerdings was ich hier aufgebaut habe, hätte ich in Deutschland nie geschafft. Deutsche sind von Natur aus zu pessimistisch, Projektarbeit erfolgt in perfektionistischer Überplanung. Das ist ein Killer. Absolut nichts darf schiefgehen und wenn man scheitert, ist man erledigt. Ein Verlierer.

DKF: Du hast viel mit Nordamerikanern wie auch den Einheimischen zu tun. Wie vergleicht sich die deutsche Mentalität mit deren?

MJ: Die US-Amerikaner sind Stehaufmännchen. Scheitern sie mit etwas, krempeln sie die Ärmel noch weiter hoch und gehen ans nächste Projekt. Die Latinos liegen so ein bisschen dazwischen, können Niederlagen gut wegstecken und sind Meister der Improvisation. Wenn sie eine Pizza backen wollen und keinen Ofen dafür haben, erfinden sie etwas Ofenähnliches. Und was herauskommt, ist essbar. Der Mix aus diesen drei Denk- und Herangehensweisen ist ein sehr fruchtbares Arbeitsfeld.

DKF: Das klingt alles sehr positiv. Wie geht ihr mit der Corona Pandemie und den Einbrüchen im Tourismus um?

MJ: Seit März haben wir unser Personal halbieren müssen. Das ist bedauerlich. Einbrüche ziehen aber auch Aufbrüche nach sich. Etwa den derzeitigen Digitalisierungsschub, dass wir nicht alle im Büro hocken müssen, sondern genauso gut von zu Hause arbeiten können. Die größere FlexibilitätimGeldverkehrundOnline-ZahlungssystemenwirdunsauchzuGute kommen.Ichbin optimistisch.DiesesJahr werden wirüberlebenund imHerbstfinden die ersten TouristenwiederihrenWegnachKolumbien.2021sindwir zurückbei fünfzig bis sechzigProzent, und 2022 wirdalleswiedernormal.

DKF: Wir wünschen viel Erfolg und danke für die spannenden Einblicke in die Palenque-Reisephilosophie.

https://palenque-tours-colombia.com/

Fotos (von oben nach unten): Startseite der Palenque-Webseite; Touristenattraktion Blumenfestival in Medellín (der August-Event-2020 findet virtuell statt); Palenque-Reisepaket; Palenque Gründer und CEO Markus Jobi. © mit freundlicher Genehmigung PalenqueTours

El Chocó – ein gewalttätiges Paradies

Dr. Frank Semper *
für DKF-Blog

06/07/2020

 

* Frank Semper ist Autor von AMAZONAS. Ed. UNAULA, Medellín, 2015

  

El Chocó – ein gewalttätiges Paradies   

„Die Erde ist ein gewalttätiges Paradies“, heißt ein Buchtitel des großen Reporters und Reisenden Ryszard Kapuscinski. Auch wenn Kapuscinski meines Wissens nie im Chocó gewesen ist, würde er wohl der Aussage zustimmen, dass der Chocó (und die gesamte kolumbianische Pazifikregion) zu jenen Orten gehören, die von den Schönheiten dieser Welt gesegnet und zugleich von ihren Schrecknissen verflucht sind.

Für die Schönheiten und Besonderheiten dieses peripheren Landstrichs und der Lebensweise seiner Bewohner fehlt der nationalen Regierung im fernen Bogotá der Sinn, es sei denn, diese lassen sich auf irgendeine Art und Weise kommerzialisieren, wie die Gold- und Platinminen, der Fischreichtum entlang der Pazifikküste oder die herausragenden Naturwunder in der Ensenada de Utría, im Los Katíos National Park und der Isla Gorgona. 

Statt diesen außerordentlichen Schatz also zu hegen und zu pflegen, seine Bewohner zu schützen und zu unterstützen, überlässt die Regierung das Land den Schrecknissen aus institutioneller Abwesenheit, Korruption, Armut und Gewalt.

Das war schon immer so, seitdem der Chocó 1947 zum Department und Quibdó am Río Atrato zur Provinzhauptstadt gemacht wurden, und es hat sich auch nach dem Friedensschluss mit den FARC-EP nicht zum Besseren gewendet, denn die hier operierende ELN-Guerilla ist nicht bereit zum Frieden, und der Staat bekämpft sie mit Armeeeinheiten  innerhalb der traditionellen Territorien der afrokolumbianischen und indigenen Gemeinschaften. 

Das Auftauchen von Covid-19 hat alles noch verschlimmert, betont das Aktionsbündnis, bestehend aus der Diözese von Quibdó, dem Consejo Comunitario Mayor de la Asociación Campesina Integral del Atrato (COCOMACIA), der Mesa Indígena del Chocó, dem Foro Interétnico Solidaridad Chocó, der Red Departamental de Mujeres Chocoanas y der Mesa Territorial de Garantías Chocó, in einer gemeinsamen Stellungnahme, gerichtet an die nationale und internationale Öffentlichkeit.    

https://www.semana.com/nacion/articulo/mas-alla-de-la-pandemia-el-choco-sufre-el-abandono-estatal-y-la-corrupcion/678128 

Die Plagen des Chocó sind für seine Bewohner noch unerträglicher geworden, seitdem Covid-19 weltweit die Schlagzeilen beherrscht und dadurch alle anderen Probleme „unsichtbar“ geworden sind.

Die regierungsamtlich verordneten Covid-19 Dekrete sind im Chocó ganz überwiegend an eine Bevölkerung aus afrokolombianischen und indigenen Gemeinschaften adressiert, die schon aufgrund des andauernden bewaffneten Konfliktes vielerorts von der Außenwelt abgeschlossen ist und deren tägliche, für die Lebensmittelversorgung lebensnotwendige Tätigkeiten, Fischen, Jagen, Landbearbeitung stark eingeschränkt sind. Die Beschränkung des Reisens und des Zugangs zu den lokalen Märkten berauben den  Bewohnern notwendige Einkünfte. Unter der alltäglichen Behinderung kultureller, religiöser und sozialer Aktivitäten leidet das Gemeinschaftsleben, die Traditionen werden zerstört, Bildung und Erziehung für Kinder und Jugendliche bleiben ein rares Gut. Neben den nunmehr in den Mantel der Legalität der Covid-19-Dekrete gekleideten Ausgangssperre (confinamiento) geht die Praxis der Vertreibungen (deplazamiento) und der Zwangsrekrutierung Minderjähriger (reclutamiento) durch die Akteure des bewaffneten Konfliktes ungebremst weiter. Während die Bewohner umfassenden Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit unterworfen sind, haben die paramilitärischen AGC (Autodefensas Gaitanistas de Colombia) und die ELN-Guerilla ihre Einflusszonen ausgedehnt.   

Die wertvollen Errungenschaften des Friedensschlusses vom 24.11.2016, die Bestimmungen aus dem eingefügten „Ethnischen Kapitel“, haben den Chocó nicht erreicht und die mesas de diálogo, die den Dialog zwischen den ethnischen Gemeinschaften, dem Staat, und den Konfliktparteien befördern sollen – ich habe an anderer Stelle darüber geschrieben –

http://www.dkfev.de/index.php?section=news&cmd=details&newsid=169            

funktionieren hier nicht.   

Selbst die Flucht der Menschen vor den Gewalttaten der bewaffneten Akteure, wie sie seit  den Zeiten der Violencía in den 1950er Jahren als Überlebensstrategie eingeübt werden musste, die Kunst des Versteckens, des sich Unsichtbar machen im Wald (Vamos al monte!) bietet kein Entkommen mehr. Mit hochgerüsteter Technik dringen diese längst bis in die letzten Winkel der abgelegenen Zuflüsse von Río Atrato, San Juan und Baudó vor.     

Es mag zynisch klingen, aber es ist die bittere Wahrheit. Solange im Chocó der bewaffnete Konflikt fortdauert, sind die Covid-19 Dekrete eher geeignet, Regierungsversagen zu kaschieren als Menschenleben zu retten. 

Ergänzend möchte ich auf den Beitrag von Dr. Michael Paetau von Wissenskulturen e.V. verweisen, der mich vom Aufruf des Aktionsbündnisses in Quibdó zur Lage im Chocó informiert hat.   

https://www.wissenskulturen.de/wp_wissenskulturen/index.php/2020/05/03/covid-19-und-die-lage-im-choco-ein-hilferuf/

 

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Erläuterung zu der Abbildung:

1995 waren die traditionellen Strukturen der meisten indigenen Emberá- / Waunana- und der Afro-Gemeinschaften im Chocó noch weitgehend intakt.

Zum Ende der 1990er Jahre setzte eine massive Ausweitung paramilitärischer Aktivitäten aus dem benachbarten Departement Antioquia ein und es kam zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit FARC-EP und ELN-Guerilla um die Territorialgewalt.

Emberá Chocó 1994 FS ©

 

Interview mit William, Musiker der Gruppe „Herencia de Timbiquí“



„Herencia de Timbiquí“ gehört zu den derzeit bekanntesten kolumbianischen Bands, fast jeder hier kennt die Musik.  Der Name der Gruppe geht zurück auf den Ort Timbiquí im südwestlichen Cauca am Pazifik. Dort habe ich William, den Sänger der Gruppe, kennengelernt. Die „Patrulla Aérea del Pacifico“ hatte in dem derzeit Corona-bedingt von der Außenwelt abgeschnittenen Ort eine Hilfsaktion organisiert, Lebensmittelpakete – und auch William sowie weitere Bandmitglieder – nach Timbiquí geflogen.

Die Musiker folgten der Einladung der Bürgermeisterin, die um Unterstützung der Jungs von der Band für die Menschen in Timbiquí gebeten hatte. William und seine Kollegen halfen mit, die Lebensmittellieferungen aus den Flugzeugen zu tragen und an die dafür vorgesehen Ablageorte zu bringen. Eine Aktion, die auch eine Geste sein sollte. Seht her, Menschen in Timbiquí, ihr seid zwar derzeit abgeschnitten von der Außenwelt, aber ihr seid nicht vergessen!

Nach der Aktion fliegt William von „Herencia de Timbiqui“  mit Gerhard Thyben, dem deutschen Honorarkonsul in Cali und Präsident der „Patrulla Aéra del Pacifico“, wieder zurück nach Cali, wo er mit seiner Familie lebt.

Der Musiker hatte eine glückliche Kindheit in dem pueblo am Pazifik. „Mein Vater ist Landwirt, ein poeta de agricultura. Ich habe viel mit ihm unternommen. Wir gingen zusammen fischen, er hat mir beigebracht, wie man aus Nylonschnüren eine Angel baut“, erzählt William. „Von meiner Mutter habe ich Verantwortlichkeit und Respekt anderen gegenüber gelernt. In Kolumbien ist es nicht so vertreten, dass die Allgemeinheit Verantwortlichkeit für andere empfindet.“

„Timbiquí gibt mir Energie in meinem Körper“.

Während seiner Schulzeit schloss sich William mit anderen Musikern zusammen und gründete die Band, die jetzt „Herencia de Timbiqui“ heißt und der er nun schon seit  20 Jahren angehört.  „Herencia“ bedeutet Erbe“, erklärt er, „und geht darauf zurück, dass wir alle musikalisches  Talent von unseren Vorfahren geerbt haben. Timbiquí ist die genauere Bestimmung.“

Aber nicht nur das: „Timbiquí ist für mich mein Land, es gibt mir Energie in meinem Körper, in meine Augen. Es hat aus mir den Menschen gemacht, der ich bin.“ Mindestens zweimal im Jahr muss William in den Ort am Pazifik, um seine Batterien aufzuladen. 

„Es kann doch nicht sein, dass es in Timbiquí an allem fehlt?!“

Und dann spricht er ein Thema an, das ihm sehr wichtig ist: „Der Pazifik ist eine Region mit genug Potenzial, um eine der wichtigsten Kolumbiens zu sein. Ich kenne viele Länder, wo es Regionen gibt, die gerade mal 50% von dem Potenzial im Pazifik haben, die aber dennoch eine beeindruckende Infrastruktur besitzen. Und Timbiquí? Und Buenaventura? Es gibt einen Rassismus, man glaubt, dass die Regionen mit schwarzen Menschen nicht entwickelt werden müssen.  Aber wir verlangen die gleichen Beneficios wie alle Regionen in Kolumbien. Von daher ist die Aktion der „Patrulla Aérea“ für uns extrem wichtig. Wir wollen Aufmerksamkeit, wir wollen ein offenes Ohr bei den politisch Verantwortlichen.“

William sieht sich als eine Art Botschafter, um auf die Situation in seinem Dorf aufmerksam zu machen. „Gerade jetzt, in Zeiten von Corona, schmerzt es mich besonders, dass es in  Timbiquí an allem fehlt. Es kann doch nicht sein, dass Medizin ein Geschäft ist und nicht jeder eine fundamentale Behandlung haben kann?“ William hat eine Fundación gegründet, um die Entwicklung seiner Region voranzutreiben.
„Warst du schon mal in San José?“, fragt mich der Musiker dann. „Das musst du dir ansehen, in allen Häusern leben wunderbare Menschen, sie laden dich ein, geben dir etwas zu essen und freuen sich, dich als Gast zu haben. Du wirst eine einzigartige menschliche Wärme spüren.“

Einer ihrer schönsten Songs ist „Sabrás“ und erzählt von einer großen Liebe

Viel von der Wärme der Menschen, die am Pazifik leben, transportiert „Herencia de Timbiquí“ in ihren Liedern. Einer ihrer schönsten Songs, „Sabrás“ , erzählt von einer großen Liebe. „Ein lieber Freund, der wie ein Vater für uns alle war, hatte Krebs, nur noch wenig Zeit zu leben. Er hinterlässt seiner Frau mit diesem Song eine Botschaft: „Quiero que sepas que mi corazón, en toda situación te va a querer …  Y aunque me esté quedando sordo, Y aunque me esté quedando ciego, Y aunque me esté quedando mudo, Te haré saber que te quiero …
Herencia de Timbiquí hatte bereits Konzerte in der Schweiz, in Norwegen, Finnland, Spanien, Frankreich, in Afrika, Russland, USA, in Deutschland nicht. Noch nicht…


Hier der wunderschöne Text von „Sabrás“: 
https://www.youtube.com/watch?v=srE7nr4xuGI

Quiero que sepas que mi corazón
En toda situación te va a querer
Que cuando te miro siento el amor
Más grande que puede haber en mi ser

Quiero que sepas que quererte a ti
Me nace de forma muy natural
Que tu existencia es lo mejor que a mí
En esta vida me pudo pasar

Y aunque me esté quedando sordo
Y aunque me esté quedando ciego
Y aunque me esté quedando mudo
Te haré saber que te quiero

Aunque yo ya me encuentre viejo
aunque esté triste o contento
Te haré saber de cualquier modo
Que estarás en mis adentros

Cuando amanece y te puedo ver
Mi vida se llena de luz total
Mido mi gran capacidad de amar

Cuando te beso es tanta la emoción
Que el corazón palpita más y más
Entro a un estado de relajación
Siento que ya puedo morir en paz

Y aunque me esté quedando sordo
Y aunque me esté quedando ciego
Y aunque me esté quedando mudo
Te haré saber que te quiero

Y aunque yo ya me encuentre viejo
Te haré saber de cualquier modo que estarás en mis adentros

Y como yo no habrá nadie que te quiera Como sea yo te amo
Yo te amaré en el cielo o en la tierra Como sea yo te amo
Y mis días a tu lado viviré Como sea yo te amo

Como sea yo te amo
Quiero cuidarte y protegerte mi vida Como sea yo te amo
Y sabrás que tú, tu eres, mi negrita consentida Como sea yo te amo
Así este loco y ciego yo te haré entender y saber lo que siento
Como sea yo te amo
Con todo mi cuerpo

Como sea yo te amo


(Fotocredit Willam de „Herencia di Timbiqui: @pasiongotografia)

Der Friedensprozess und die indigenen Völker in Zeiten von Covid-19

Dr. Frank Semper *

für DKF-Blog

22/06/2020

 

* Frank Semper ist der Autor von Los Derechos de los Pueblos Indígenas en Colombia, Ed. Temis, Bogotá, 2018

  

 

Der Friedensprozess und die indigenen Völker in Zeiten von Covid-19  

 

Werfen wir noch einmal einen kurzen Blick zurück.

Die indigenen Völker und Gemeinschaften sind in den Friedensprozess spät eingebunden worden, obwohl sie in überproportionaler Weise durch den bewaffneten Konflikt beeinträchtigt und geschädigt worden sind und von Beginn der in Havanna seit 2012 geführten Friedensverhandlungen zwischen Regierung und FARC-EP auf eine umfassende Berücksichtigung ihrer Anliegen bestanden haben. Dieses Defizit wurde schließlich mit Abschluss des Friedensvertrages korrigiert, indem ein umfangreiches „Ethnisches Kapitel“ in das Übereinkommen eingefügt wurde, das anerkennt, dass den indigenen Gemeinschaften historisches Unrecht durch und in Folge von Kolonialisierung, Sklaverei und Diskriminierung zugefügt worden ist, dass ihre traditionellen Territorien enteignet und die dort befindlichen natürlichen Ressourcen unrechtmäßig ausgebeutet worden sind.  

Mit Umsetzung des Acuerdo Final vom 24.11.2016 nehmen die indigenen Völker und Gemeinschaften durch ihre Repräsentanten aktiv am Friedensprozess teil und prägen  ihn in wichtigen Bereichen mit.

In meinem letzten Blog-Beitrag vom 05/06/2020 habe ich mich mit dem durch den Friedensvertrag geschaffenen integralen System der Wahrheit, Wiedergutmachung und Nicht-Wiederholung, insbesondere mit der Arbeitsweise der Übergangsjustiz (Jurisdicción Especial para la Paz / JEP) beschäftigt.

http://www.dkfev.de/index.php?section=news&cmd=details&newsid=167

Der Friedensvertrag hat die Existenz und Funktionsweise der indigenen Justiz in Übereinstimmung mit den nationalen und internationalen Normen bekräftigt und weist über die bislang bestehende Rechtslage in Kolumbien hinaus. In den Verfahren vor JEP und Wahrheitskommission wird eine ethnische und multikulturelle Bewertungs- und Beurteilungsperspektive eingeführt. Bei der Implementierung der JEP werden Mechanismen geschaffen, um der verfassungsmäßig verankerten indigenen Justiz (Art. 246) Geltung zu verschaffen und beide Rechtszweige miteinander zu koordinieren. Und mit den indigenen Organisationen wird ein besonderes Programm der Harmonisierung der Rückführung entwurzelter und vertriebener Indígenas auf ihr traditionelles Land erarbeitet, das dafür sorgen soll, die Voraussetzungen für die Wiederherstellung der territorialen Harmonie zu garantieren.      

Im Bereich der Übergangsjustiz haben die indigenen Repräsentanten wertvolle Arbeit geleistet. Das gegenüber der ordentlichen Justiz erweiterte Konzept hat den indigenen Völkern (wie auch den afrokolumbianischen Gemeinschaften) neue Gestaltungsräume eröffnet. Ermöglicht wurde dies u.a. durch die Berufung von vier Richter/innen aus vier unterschiedlichen Ethnien an die JEP, die damit 10% des gesamten Spruchkörpers bilden. Das ist das erste Mal, dass Angehörige der indigenen Völker und Gemeinschaften bei der Besetzung von Richterstellen an einem der höchsten nationalen Gerichte berücksichtigt wurden.

Ein weiterer entscheidender Aspekt ist, dass die Arbeitsweise und Entscheidungsfindung der JEP indigenen Rechtsvorstellungen oftmals besser zu entsprechen vermag, als es die weit stärker von prozessualen Regeln bestimmte ordentliche Gerichtsbarkeit zu leisten im Stande ist. Und die indigenen Gemeinschaften präferieren grundsätzlich schlichtende bzw. streitharmonisierende Lösungen gegenüber der Verhängung von Freiheitsstrafen im staatlichen Vollzug gegenüber Straftätern.

Daher sind nunmehr Fortschritte im Bereich der Koordinierung von indigener und staatlicher Justiz zu registrieren, die bereits die Verfassung von 1991 vorsieht, deren Auftrag aber bislang nicht umgesetzt werden konnte, weil das gegenseitige Misstrauen in die Justizgewalt der jeweils anderen Seite ein unüberwindliches Hindernis darstellt, und die Indigenen befürchten, dass ein Gesetz zur Koordinierung von indigenen Rechten und dem staatlich gesetzten Recht die Geltungskraft ihrer autochthonen Rechte aushöhlen würde.

Augenscheinlich hat der voranschreitende Friedensprozesses in Form der Tätigkeit von JEP und Wahrheitskommission die indigene Gestaltungsmacht vergrößert und zugleich die  Befürchtungen der indigenen Völker verringert, der Staat bezwecke ihre (Justiz-) Autonomie zu beschränken und staatlicher Kontrolle zu unterwerfen.     

So lebt der Friedensprozess, dessen Zweck der Wiedergutmachung gegenüber den Opfern dient, auch und gerade dadurch, dass er die indigenen Völker (und die  afrokolumbianischen Gemeinschaften) nicht allein auf die problematische, weil stigmatisierende Opferrolle reduziert, sondern sie gleichermaßen zu mitgestaltenden Akteuren bei der Aufklärung, Beurteilung und Wiedergutmachung des begangenen Unrechts aufwertet.     

Wenn wir die Aussagen von Hernado Chindoy, dem indigenen Lider aus dem Volk der Inga, in seiner Videobotschaft vom 09.06.2020

/ “Revitalizando nuestra diversidad. Reflexiones de Hernando Chindoy ante el coronavirus“ /

einzuordnen und zu bewerten versuchen, erstaunt auf den ersten Blick, mit wieviel Pragmatismus und Gelassenheit er im Angesicht von Covid-19 die Lebenssituation seines Volkes beschreibt. Naheliegend bemängelt er die mangelhafte medizinische Ausstattung in den indigenen Resguardos und kritisiert die durch den allgemeinen Lockdown herbeigeführten Beschränkungen für die Indígenas, sich fortzubewegen, um die lokalen Märkte mit ihren Produkten wie Agrarprodukte, Fisch oder Kunsthandwerk zu beliefern und dadurch keine notwendigen Einkünfte erzielen zu können. Aber die Indígenas haben schon die Pocken, die Masern, die Konflikte und die Feuerwaffen überlebt, dank der Weisheit ihrer Großväter und Großmütter. Mit anderen Worten, sie haben (wie man heutzutage in Bezug auf die Seuche zu sagen pflegt) eine Resilienz erworben, um auch diese Krise überleben zu können. Eine Feststellung, die belegt, dass die indigenen Völker und Gemeinschaften in weiten Teilen Kolumbien mit vielfältigen Gewaltszenarien konfrontiert sind, unter denen Covid-19 nur einen weiteren, zusätzlichen Bedrohungsfaktor darstellt. 

Das traditionelle Land der Quechua sprachigen Inga in den Departements Nariño und Putumayo sowie das im nördlichen Cauca angrenzende der Nasa und das weiter westlich gelegene Land der Awá bilden seit Jahren den Schauplatz für die in jüngster Zeit wieder anwachsende Kokainproduktion und zugleich den wichtigsten Drogenkorridor im Land zwischen Amazonas und Pazifikküste. Die Indígenas befinden sich zwischen den Fronten der Drogenmafia, die ihr Land nach Belieben okkupiert und ihre Bewohner terrorisiert, und der Militarisierung ihrer Region durch kolumbianische Heeresverbände. Noch sind das Blut und die Tränen im angrenzenden Departement Cauca nicht getrocknet, nachdem bewaffnete Killer im Auftrag der Drogenmafia wiederholt Massaker unter den Nasa-Gemeinschaften im Herbst des vergangenen Jahres verübt haben. 

Vor elf Jahren hat der Verfassungsgerichtshof  mit seinem Beschluss, CC-Auto 004/2009,die kolumbianische wie die Weltöffentlichkeit mit der Anklage aufhorchen lassen, dass 34 indigene Völker physisch und kulturell vom Verschwinden bedroht seien, durch schwere, fortgesetzte und systematische Menschenrechtsverletzungen, ausgelöst durch gewaltsame Vertreibungen durch die am internen Konflikt beteiligten bewaffneten Akteure. Und er hat den kolumbianischen Staat verpflichtet, ein Programm mit Rechtsgarantien und für jedes der benannten Völker einen Rettungsplan zu entwickeln  (planes de Salvaguarda).

Der bahnbrechende höchstrichterliche Beschluss, der am Ende der zweiten Präsidentschaft von Álvaro Uribe erfolgte, hat wesentlich dazu beigetragen, dass die indigenen Völker den über lange Zeit gestörten und unterbrochenen Dialog mit dem Staat und seinen Institutionen bei Amtsantritt des neu gewählten Präsidenten Manuel Santos wieder aufgenommen haben.

Und zum zentralen Forum des Dialogs hat sich seit dieser Zeit die nationale Mesa de Concertación entwickelt, bei der sich die Abgesandten der Regierung mit den Repräsentanten der größten indigenen Organisationen austauschen und nach Lösungen zur Bewältigung von Krisen suchen sowie auch jetzt zu Covid-19.     

Leider versanden die Bereitschaft und die Fähigkeit zum Dialog je weiter weg von Bogotá man sich bewegt, und die Arbeit der regionalen und lokalen mesas lässt zu wünschen übrig.    

Wenn Hernando Chindoy gleichwohl Zuversicht verbreitet, dann auch deshalb, weil er den bewaffneten Akteuren in seinem Land schon mehrmals mutig die Stirn geboten hat, als die Inga die Kokain- und Opiumproduktion in den Jahren 2002/03 aus dem Resguardo Aponte (Dep. Nariño) verbannen konnten und die örtliche Heereskompanie gleich dazu. Heute wächst auf vielen der zurückgewonnen Flächen neben den Agrarprodukten für den Eigenbedarf auf 330 Hektar organischer Kaffee, der bis nach Europa Abnehmer findet. Daher sind Hernando Chindoy und die anderen Wortführer der Inga fortgesetzt Bedrohungen durch bewaffnete Akteure ausgesetzt, die in den indigenen Territorien ihr Unwesen treiben. Covid-19 kann Hernando Chindoy unter solchen Umständen nicht aus der Ruhe bringen. Die Inga und die ihnen benachbarten Kamëntsá im Valle del Siboundoy gelten als die besten Naturheiler in Kolumbien. Ihr Wissen umfasst die medizinische Anwendung von mehr als 240 Heilpflanzen, darunter acht unterschiedliche Arten des borachero wie el guamuco, el biagán und la culebra, zudem quindé gegen Rheuma, amarrón zur Wundheilung und la munchira gegen Parasitenbefall.

Die heilige Pflanze der Inga, das sagenumwobene yagé, das bei sachgemäßer Anwendung und unter Indigenen eingenommen, Körper und Geist reinigt, hatte einst den legendären amerikanischen Schriftsteller William S. Burroughs in die Gegend gelockt und heutzutage gelegentlich blauäugige Traveller, die alles daran setzen, sich in einen exotischen Rausch mit ungewissen Ausgang zu versetzen.         

 

Zum Friedensprozess in Zeiten von Covid-19

Dr. Frank Semper für DKF-Blog 05/06/2020

 

Anmerkung zum CAPAZ-Experten-Panel vom 19.05.2020

Zunächst möchte ich mich bedanken bei Wolfgang Goede für die gelungene und gut nachvollziehbare Zusammenstellung der Positionen der teilnehmenden Experten der CAPAZ-Online-Diskussion vom 19.05.2020 und den darauf bezogenen, sehr hilfreichen Kommentar von Bernd Tödte, der einige zentrale Aspekte in den Fokus rückt, die es verdienen, vertieft zu werden. Die von den Diskutanten aufgezeigten Defizite des bisherigen Friedensprozesses sind soweit bekannt und weitgehend unbestritten.

Mir geht es in diesem Beitrag darum, den herausragenden Stellenwert der durch den Friedensvertrag (Acuerdo Final) vom 24.11.2016) geschaffenen Übergangsjustiz aufzuzeigen.

Das integrale System der Wahrheit, Wiedergutmachung und Nicht-Wiederholung, das mit dem Abkommen über die Beendigung des Konfliktes und der Schaffung eines stabilen und nachhaltigen Friedens zwischen der kolumbianischen Regierung und den FARC-EP geschlossen und durch den Gesetzgebungsakt 001 von 2017 in die Verfassung aufgenommen wurde, gehört zu den bedeutenden Errungenschaften des Friedensschlusses.

Dabei nimmt die Jurisdicción Especial para la Paz (JEP) „Sondergerichtsbarkeit für den Frieden“ eine zentrale Rolle ein. Die beiden anderen fundamentalen Einrichtungen des Systems haben einen außergerichtlichen Charakter, die Einheit zur Vermisstensuche

(Unidad ara la s ueda de ersonas dadas or Desa arecidas und die ommission zur ufkl rung der ahrheit des usammenlebens und der icht- iederholung

(Comisión para el Esclarecimiento de la verdad la Convivencia la No Repetición).

Die JEP ist ein Sonder-Justizorgan, bestehend aus dem Exekutiv-Sekretariat, einem Zweig zur Untersuchung und Vorbereitung von Anklagen (Unidad de Investigación y Acusación) sowie drei Kammern und dem Tribunal para la Paz, der fünf Abteilungen hat. Die JEP hat ihre Arbeit am 15.01.2018 aufgenommen. Ihr durch den Acuerdo Final zugewiesenes Mandat erstreckt sich auf einen Zeitraum von 15 Jahren, plus weiterer fünf Jahre, um die dann noch anhängigen Verfahren zum Abschluss zu bringen.

Die JEP wurde geschaffen, um die Ansprüche der Opfer des bewaffneten Konfliktes auf Wahrheit Gerechtigkeit und Wiedergutmachung zu befriedigen, verbunden mit Garantien auf die Nicht- Wiederholung (der schrecklichen Taten) mit dem Zweck einen stabilen und dauerhaften Frieden zu schaffen.

Die materielle Zuständigkeit der JEP erstreckt sich auf die Prüfung und Bewertung aller „Straftaten die auf Grund oder im Zusammenhang oder direkter Verbindung mit dem

bewaffneten Konflikt“ begangen wurden (Art. 62 ley 1957 / 2019, JEP-Statut).
Nach ganz überwiegender Ansicht erfasst dies den Zeitraum zwischen 1958 und dem 01.12.2016. In den annähernd 60 Jahren sind bis zu 8,7 Mio Gewaltopfer zu beklagen, eine gewaltige Zahl, die die Aufklärungs- und Bestrafungstätigkeit der JEP dahingehend kanalisiert, nicht allen Fällen einzeln und gesondert nachzugehen, sondern eine im Sinne ihres gesetzlichen und richterlichen Auftrags sachgerechte Auswahl und Prioritätensetzung zu treffen, die sich auf die schwersten und kennzeichnenden Fälle konzentriert, gem. Art. 19 ley 1957 / 2019.

Diesen Massgaben entsprechend wurden bislang sieben Großverfahren eröffnet, sog. Makrofälle (macrocasos). Besondere Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit findet der Fall Nr. 003. Dabei geht es um die Ermordung von durch Mittelmännern der kolumbianischen Armee angeworbene junge Männer aus den Armenvierteln der Großstädte, zumeist aus Bogotá (u.a Soacha, Ciudad Bolívar)) , die als gefallene Kämpfer der FARC-EP in den Militärstatistiken verbucht und Jahre später, soweit ihre sterblichen Überreste noch auffindbar waren, aus Sammelgräbern (u.a in Ocaña, Norte de Santander oder Dabeiba, Antioquia exhumiert wurden sog. „falsos positivos“. ach Ermittlungen der kolumbianischen Generalstaatsanwaltschaft soll es sich hierbei insgesamt um mindestens 5000 Einzelfälle handeln.

Die Bestrafungs-, Amnestierungs- und Begnadigungskompetenz der JEP erstreckt sich auf politische oder mit ihnen verbundene Straftaten, gem. Art. 40 ley 1957 / 2019 i.V.m. Art. 23 Gesetz 1820 / 2016. (ley de Amnistia, Indulto y Tratamientos Penales Especiales) Im einzelnen werden Straftaten untersucht, die durch ehemalige Kämpfer/innen der FARC- EP, Angehörige der öffentlichen Gewalt, Staatsbedienstete und Private die Delikte, die mit dem bewaffneten Konflikt im Zusammenhang stehen, begangen haben, sowie – was in der Praxis von untergeordneter Bedeutung ist – Personen, die an sozialen Protesten und inneren Unruhen teilgenommen haben.

Grundsätzlich werden gegen alle Kämper/innen der aufgelösten FARC-EP durch die Übergangsjustiz Untersuchungen durchgeführt, gegen Angehörige der Streitkräfte wird dann ermittelt, wenn Verfahren gegen sie von anderen Gerichten geführt werden oder Straftaten im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt verübt wurden. Zivilisten oder Amtsträger, gegen die Verfahren vor anderen Gerichten anhängig sind oder die Straftaten im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt verübt haben, können sich freiwillig der Justizgewalt der JEP unterwerfen.

Ist lediglich der Tatbestand der Rebellion „rebelión“ erfüllt dazu z hlen die Mitgliedschaft in den FARC-EP, sowie die Teilnahme an Handlungen, die zur Ausübung des Kampfes im Rahmen des bewaffneten Konfliktes gehörten, führt dies im Regelfall entweder zur Amnestie oder mündet in ein Begnadigungsverfahren ein.

Zu den ausdrücklich nicht zur Amnestie vorgesehenen Straftaten gehören Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Genozid, Geiselnahme, Folter, außerordentliche Hinrichtungen, gewaltsames Verschwindenlassen, gewaltsame Vertreibung, Vergewaltigung und sexuelle Gewalt, Kindesentführung und die Rekrutierung Minderjähriger, entsprechend des Römischen Statut zur Einrichtung des internationalen Strafgerichtshofes von 1998. Gleichfalls ausgenommen sind gewöhnliche Straftaten, die keinen Bezug zur „rebelión“ aufweisen rt. 40-42 ley 1957 / 2019.
Generell nicht erfasst von der JEP sind Straftaten, die von Tätern aus den Reihen der paramilitärischen Verbände verübt wurden, diese unterfallen der Gerichtsbarkeit aufgrund des zu Zeiten der Regierung Uribe verabschiedeten Gesetzes über „Gerechtigkeit und Frieden“ aus dem Jahr 2005.

Der Sanktionskatalog für die von den Amnestiekriterien nicht erfassten Straftaten gliedert sich in „eigene“ „alternative“ und „gewöhnliche“ Strafen gestaffelt nach der Auskunfts- und Mitwirkungsbereitschaft des Täters bei der Wahrheitsermittlung, Art. 125 ley 1957 /2019.

Die abgestuften Sanktionen stellen in mehrfacher Hinsicht eine Abweichung vom herkömmlichen Strafverfahren dar. Die Schuld des Täters zum Zeitpunkt der Tatbegehung ist nicht das alleinige Kriterium für die Verhängung einer der zur Auswahl stehenden Sanktionen, bedeutsamer ist die nachträgliche Einstellung des Täters zu dieser Tat. Der Täter, der die Wahrheit umfassend und detailliert schildert und seine Verantwortung anerkennt, kommt in den Genuß der sanciones propias, Die ausgesprochenen Sanktionen beinhalten eine Freiheitsbeschränkung außerhalb des Gefängnisses zwischen 5-8 Jahren, bei einer untergeordneten Beteiligung an der Tat beträgt der Strafrahmen 2-5 Jahre. Die „alternatven“ Strafen kommen denjenigen zu Gute die vor einem Urteilsspruch die Wahrheit anerkennen und beinhalten zwischen 5-8 Jahren Freiheitsstrafe. Für diejenigen Täter, die Wahrheit und Verantwortlichkeit leugnen und für schuldig befunden werden, sind Gefängnisstrafen von bis zu 20 Jahren vorgesehen.

Vor Einführung des abgestuften Sanktionskataloges wurde im Einzelnen und detailliert geprüft, ob er mit international anerkannten rechtsstaatlichen Kriterien zu vereinbaren sei, insbesondere die Proportionalität zwischen Strafmaß und persönlicher Schuld des Täters gewahrt bleibe und kein Zustand der „Straflosigkeit“ herbeigeführt werde. Da die Übergangsjustiz aber neben der Aburteilung der individuell zurechenbaren Tat dem umfassenden Gebot der Schaffung eines stabilen und dauerhaften Friedens zu dienen bestimmt ist, relativieren sich für diesem Sonderfall, den die JEP darstellt, die Funktion der Strafzwecke, und anders als im gewöhnlichen Strafverfahren tritt der Aspekt der Einzelfallgerechtigkeit dabei noch stärker in den Hintergrund.

Der international renommierte Experte für das komplexe Thema von Übergangsjustiz und Straflosigkeit (impunidad), der Göttinger Strafrechtslehrer Kai Ambos, spricht von einem „S annungs erh ltnis zwischen Gerechtigkeit und Frieden zwischen Recht und olitik vergeltender Justiz, die auf Vergangenheit schaut und einer schöpferischen Justiz, die in die Zukunft blickt“. Die Übergangsjustiz „stehe or der schwierigen ufgabe einen Ausgleich herzustellen zwischen den Forderungen derjenigen nach einer vergeltenden Justiz für alle Straftäter und denjenigen die eine absolute Straflosigkeit für alle Täter einforderten.“ n anderer Stelle hat mbos deutlich gemacht dass das h nomen der Straflosigkeit (von schweren Menschenrechtsverletzungen) gerade nicht der Übergangsjustiz anzulasten sei, sondern vielmehr ein klassisches Charakteristikum Kolumbiens darstelle, und die Arbeit der Übergangsjustiz es nunmehr ermögliche, umfangreiche Sachverhalte, die zum Teil seit Jahrzehnten unberührt geblieben seien, nun endlich strafrechtlich aufzuarbeiten, wie die Tragödie des Palacio de Justicia (1985), die

Morde an den Mitgliedern der ni n atri tica in den 1990er Jahren und andere Fälle mehr.

Link: https://www.semana.com/nacion/articulo/la-fosa-de-debeiba-constituye-una- contribucion-inmensa-a-la-verdad-historica-kai-ambos/652458

Wenn es einen blinden Flick bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs durch die JEP gebe, dann bestehe er in der (bislang) unzureichenden Verfolgung von Tätern aus dem Kreis der obersten Armeeführung und der Politik, meint der erfahrene Menschenrechtsanwalt Reynaldo Villalba vom Colectivo de Abogados „José Alvear Restrepo“ und beklagt, dass es keine Fortschritte bei den Ermittlungen gegenüber zivilen Staatsbediensteten und Finanziers von dieser Art Verbrechen gebe, sowie gegen hohe Staatsdiener die in die F lle der sog. „falsos positivos“ verstrickt seien. Generell besteht die Tendenz, dass die Verantwortlichkeit im Fall der Armeeführung auf niedere Ränge abgewälzt bzw. von Seiten der Politik rundweg geleugnet wird. Aber auch die ehemaligen FARC-Kommandanten sind ihrer Rechenschaftspflicht vor der JEP nicht ausreichend nachgekommen, wie die Chefanklägerin beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag Fatou Bensouda bemängelt, die grundsätzlich mit der JEP einvernehmlich kollegial zusammenarbeitet.

Kolumbien unterliegt als Unterzeichnerstaat des Römischen Statuts besonderen Verpflichtungen, hier kann und muss sich die JEP bewähren. Bislang haben die Täter nicht zu befürchten, vor dem Internationalen Strafgerichtshof angeklagt und verurteilt zu werden.

Unter dem Eindruck der Covid-19-Pandemie und den dadurch bedingten Verfahrensverzögerungen eine Verlängerung des an für sich zeitlich gut bemessenen Mandats der JEP ins Auge zu fassen, halte ich zum jetzigen Zeitpunkt zumindest für verfrüht. Im Grundsatz muss eine Übergangsjustiz, die ihr zugewiesenen Aufgaben und Verpflichtungen in dem dafür vorgesehenen Zeitraum beenden, um Staat und Gesellschaft eine mit bschluss ihrer T tigkeit „erneuerte“ ers ekti e für zukünftige Entwicklungen zu eröffnen. Dieses Ziel muss mit der gebotenen Gründlichkeit und zugleich zügig angestrebt werden.

Der Friedensvertrag hat dementsprechend ein vielversprechendes Instrumentarium geschaffen, um sich der blutigen Vergangenheit zu stellen, er hat aber die kolumbianische Gegenwart (noch) nicht soweit verändert, um die notorische Violencia zu überwinden. Der Frieden ist dort am wenigsten angekommen, wo er am dringlichsten benötigt wird. Die Akteure mögen wechseln, aber die Ermordung sozialer Aktivisten, die Vertreibung der Menschen und die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen (zumal in den „ eri heren“ Regionen geht weiter. nd erst recht hat der Friedensschluss bislang keine Veränderungen an den Stellschrauben der kolumbianischen Politik bewirkt, um eine gerechtere Land- und Vermögensverteilung, sowie Bildungs- und Aufstiegschancen für die Angehörigen der weniger privilegierten Schichten zu ermöglichen. Solange dies nicht geschieht, bleibt der erfolgreich initiierte Friedensprozess fragil und jederzeit anfällig für Rückschläge.

 

La situación de los indígenas en los tiempos de la pandemia Corona

Mi amigo Frank Semper, autor del libro Amazonas (UNAULA, 2015), me ha compartido este breve texto, aparecido en la página del Círculo de amigos Colombo-alemán para que hiciera el favor de traducirlo. Conviene llamar la atención sobre los sucesos desafortunados que se han ido perpetrando detrás de la escena del Covid-19 en Latinoamérica. 

Vea aquí el Texto Original

Traducción: Andrés Felipe Quintero, Universidad de Antioquia

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Hella Braune (DKF)
Dr. Frank Semper (DKF)

(Autores de libros especializados sobre los indígenas en Colombia y numerosas guías turísticas sobre Colombia y Latinoamérica)




¡Pensemos también en los indígenas!

Mientras que tanto las naciones industrializadas orientales como las occidentales siguen adelante con sus esfuerzos para relajarse después de la cuarentena general, el virus Covid-19 sigue hacienda de las suyas, golpeando con más fuerza a los más vulnerables y necesitados de la raza humana, en especial a las sociedades del Sur global, incluida nuestra querida Colombia.

Los autores del blog de la DKF, Jenny Schuckardt de Cali, Wolfgang Goede de Medellín y Bernd Toedte de Munich, Alemania, informan con sus interesantes artículos sobre la situación que se vive en las principales ciudades del país.

Mujeres indigenas con niños en camino hacia sus chagras (jardines de la selva) – Río Apaporis, Vaupés

En los últimos días, la situación de los pueblos indígenas ha pasado a ser el centro de atención de la opinión pública mundial,  ya que los pueblos indígenas están aún más expuestos a la transmisión del virus que otros grupos sociales debido a su forma de vida específica; una forma de vida que prevé una integración mucho mayor de cada uno de sus miembros en la comunidad y que, por lo tanto, supone un estrecho contacto social y físico de la forma más espontánea.

Puesto sanitario en Buenos Aires – Vaupés (más que primer auxilio no es posible)

Entre los „blancos“, un estado prolongado de „distanciamiento social“ puede conducir al aislamiento social, pero entre los pueblos indígenas, la adhesión a las medidas de protección recomendadas o prescritas en todo el mundo está haciendo que se tambaleen los cimientos y los componentes básicos de sus culturas tradicionales. Y aún así, por el bien de la supervivencia, ahora deben aislarse mucho más. Esto es particularmente cierto para los pueblos indígenas del Amazonas.

Además, debido a la confusa situación provocada por la crisis, las instituciones estatales que se supone que deben garantizar la protección de los pueblos indígenas están actualmente aún menos capacitadas para cumplir sus obligaciones legales que en tiempos normales. Esto significa que las actividades ilegales, la deforestación, la minería o la producción de cocaína están siendo perpetradas sin la menor consideración, acelerando así el ritmo de la destrucción natural y el desplazamiento del territorio. En este preciso momento se está generando un círculo vicioso de apropiación de tierras con fines específicos y el consiguiente repliegue de los pueblos indígenas de sus tierras para escapar de la transmisión del virus por parte de los invasores criminales.


Frank Semper con acompañantes del río Apaporis – Vaupés

Hace unos días, el muy estimado fotógrafo Sebastiao Salgado, que fue galardonado el año pasado con el Premio de la Paz de la Asociación Alemana del Libro, empleó unas palabras conmovedoras para llamar la atención sobre la destrucción de la selva amazónica brasileña, que ha sido favorecida por la crisis de Covid 19 en una escala sin precedentes, y los efectos devastadores para los pueblos indígenas que viven en ella, que deben considerarse como un genocidio, como en los días de la conquista, cuando los conquistadores europeos propagaron la peste y la viruela entre los indígenas.

Hace poco recibimos un llamado de los pueblos indígenas de la región amazónica colombiana, representados por su organización OPIAC y una campaña coordinada de recaudación de fondos, de la que FANY KUIRU CASTRO, como organizadora de la campaña, es (co)responsable. Fany es una abogada y activista, indígena Huitoto de La Chorrera, a quien conocemos desde hace mucho tiempo y cuyo trabajo apreciamos mucho. Esta acción concreta beneficia directamente a los pueblos indígenas y es adecuada para asegurar su supervivencia física y cultural en estos tiempos difíciles.

Hella Braune am Río Apaporis