El Chocó – ein gewalttätiges Paradies

Dr. Frank Semper *
für DKF-Blog

06/07/2020

 

* Frank Semper ist Autor von AMAZONAS. Ed. UNAULA, Medellín, 2015

  

El Chocó – ein gewalttätiges Paradies   

„Die Erde ist ein gewalttätiges Paradies“, heißt ein Buchtitel des großen Reporters und Reisenden Ryszard Kapuscinski. Auch wenn Kapuscinski meines Wissens nie im Chocó gewesen ist, würde er wohl der Aussage zustimmen, dass der Chocó (und die gesamte kolumbianische Pazifikregion) zu jenen Orten gehören, die von den Schönheiten dieser Welt gesegnet und zugleich von ihren Schrecknissen verflucht sind.

Für die Schönheiten und Besonderheiten dieses peripheren Landstrichs und der Lebensweise seiner Bewohner fehlt der nationalen Regierung im fernen Bogotá der Sinn, es sei denn, diese lassen sich auf irgendeine Art und Weise kommerzialisieren, wie die Gold- und Platinminen, der Fischreichtum entlang der Pazifikküste oder die herausragenden Naturwunder in der Ensenada de Utría, im Los Katíos National Park und der Isla Gorgona. 

Statt diesen außerordentlichen Schatz also zu hegen und zu pflegen, seine Bewohner zu schützen und zu unterstützen, überlässt die Regierung das Land den Schrecknissen aus institutioneller Abwesenheit, Korruption, Armut und Gewalt.

Das war schon immer so, seitdem der Chocó 1947 zum Department und Quibdó am Río Atrato zur Provinzhauptstadt gemacht wurden, und es hat sich auch nach dem Friedensschluss mit den FARC-EP nicht zum Besseren gewendet, denn die hier operierende ELN-Guerilla ist nicht bereit zum Frieden, und der Staat bekämpft sie mit Armeeeinheiten  innerhalb der traditionellen Territorien der afrokolumbianischen und indigenen Gemeinschaften. 

Das Auftauchen von Covid-19 hat alles noch verschlimmert, betont das Aktionsbündnis, bestehend aus der Diözese von Quibdó, dem Consejo Comunitario Mayor de la Asociación Campesina Integral del Atrato (COCOMACIA), der Mesa Indígena del Chocó, dem Foro Interétnico Solidaridad Chocó, der Red Departamental de Mujeres Chocoanas y der Mesa Territorial de Garantías Chocó, in einer gemeinsamen Stellungnahme, gerichtet an die nationale und internationale Öffentlichkeit.    

https://www.semana.com/nacion/articulo/mas-alla-de-la-pandemia-el-choco-sufre-el-abandono-estatal-y-la-corrupcion/678128 

Die Plagen des Chocó sind für seine Bewohner noch unerträglicher geworden, seitdem Covid-19 weltweit die Schlagzeilen beherrscht und dadurch alle anderen Probleme „unsichtbar“ geworden sind.

Die regierungsamtlich verordneten Covid-19 Dekrete sind im Chocó ganz überwiegend an eine Bevölkerung aus afrokolombianischen und indigenen Gemeinschaften adressiert, die schon aufgrund des andauernden bewaffneten Konfliktes vielerorts von der Außenwelt abgeschlossen ist und deren tägliche, für die Lebensmittelversorgung lebensnotwendige Tätigkeiten, Fischen, Jagen, Landbearbeitung stark eingeschränkt sind. Die Beschränkung des Reisens und des Zugangs zu den lokalen Märkten berauben den  Bewohnern notwendige Einkünfte. Unter der alltäglichen Behinderung kultureller, religiöser und sozialer Aktivitäten leidet das Gemeinschaftsleben, die Traditionen werden zerstört, Bildung und Erziehung für Kinder und Jugendliche bleiben ein rares Gut. Neben den nunmehr in den Mantel der Legalität der Covid-19-Dekrete gekleideten Ausgangssperre (confinamiento) geht die Praxis der Vertreibungen (deplazamiento) und der Zwangsrekrutierung Minderjähriger (reclutamiento) durch die Akteure des bewaffneten Konfliktes ungebremst weiter. Während die Bewohner umfassenden Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit unterworfen sind, haben die paramilitärischen AGC (Autodefensas Gaitanistas de Colombia) und die ELN-Guerilla ihre Einflusszonen ausgedehnt.   

Die wertvollen Errungenschaften des Friedensschlusses vom 24.11.2016, die Bestimmungen aus dem eingefügten „Ethnischen Kapitel“, haben den Chocó nicht erreicht und die mesas de diálogo, die den Dialog zwischen den ethnischen Gemeinschaften, dem Staat, und den Konfliktparteien befördern sollen – ich habe an anderer Stelle darüber geschrieben –

http://www.dkfev.de/index.php?section=news&cmd=details&newsid=169            

funktionieren hier nicht.   

Selbst die Flucht der Menschen vor den Gewalttaten der bewaffneten Akteure, wie sie seit  den Zeiten der Violencía in den 1950er Jahren als Überlebensstrategie eingeübt werden musste, die Kunst des Versteckens, des sich Unsichtbar machen im Wald (Vamos al monte!) bietet kein Entkommen mehr. Mit hochgerüsteter Technik dringen diese längst bis in die letzten Winkel der abgelegenen Zuflüsse von Río Atrato, San Juan und Baudó vor.     

Es mag zynisch klingen, aber es ist die bittere Wahrheit. Solange im Chocó der bewaffnete Konflikt fortdauert, sind die Covid-19 Dekrete eher geeignet, Regierungsversagen zu kaschieren als Menschenleben zu retten. 

Ergänzend möchte ich auf den Beitrag von Dr. Michael Paetau von Wissenskulturen e.V. verweisen, der mich vom Aufruf des Aktionsbündnisses in Quibdó zur Lage im Chocó informiert hat.   

https://www.wissenskulturen.de/wp_wissenskulturen/index.php/2020/05/03/covid-19-und-die-lage-im-choco-ein-hilferuf/

 

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Erläuterung zu der Abbildung:

1995 waren die traditionellen Strukturen der meisten indigenen Emberá- / Waunana- und der Afro-Gemeinschaften im Chocó noch weitgehend intakt.

Zum Ende der 1990er Jahre setzte eine massive Ausweitung paramilitärischer Aktivitäten aus dem benachbarten Departement Antioquia ein und es kam zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit FARC-EP und ELN-Guerilla um die Territorialgewalt.

Emberá Chocó 1994 FS ©

 

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